Streifzüge im sozialen Brennpunkt

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Im Stadtteil Itaquera der brasilianischen Metropole São Paulo wird das Eröffnungsspiel der WM 2014 ausgetragen. Hier gibt es bereits seit Langem Proteste; schwere Unfälle und Gewalttaten sorgen für Schlagzeilen.

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Im Stadtteil Itaquera der brasilianischen Metropole São Paulo wird das Eröffnungsspiel der WM 2014 ausgetragen. Hier gibt es bereits seit Langem Proteste; schwere Unfälle und Gewalttaten sorgen für Schlagzeilen.

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Die Bewohner von Itaquera fiebern dem Fußball-Großereignis entgegen, die einen hoffnungsvoll, die anderen skeptisch. Eine Eintrittskarte werden sich die meisten wohl nicht leisten können, aber Fußball gehört zu Brasilien wie Samba, Karneval und Lebensfreude. Brasilianische Leichtigkeit neben Gewalt, Armut, Drogen, Kriminalität und Perspektivlosigkeit. Denn trotz vieler positiver Veränderungen gehört das alles zum Alltag in Itaquera. Hier leben rund 200.000 Menschen, ein Stadtteil, der so groß ist wie manche deutsche Stadt. In einigen Vierteln gibt es viel Gewalt, und einen der begehrten Jobs bekommt man nur in der Innenstadt. Mancher zweifelt daran, dass sich daran durch die WM irgendetwas ändern wird.

So ist José, der in der Nähe des Stadions wohnt, eher skeptisch. "Was bringt das? Die Touristen werden an den Imbissständen von Itaquera vorbeirauschen, ins Stadion gehen, dort etwas essen und kaufen und anschließend wieder schnell in ihr Hotel zurückfahren. Und wir?"

Christiane Vitale de Melo sieht das anders. Sie ist Leiterin der Bildungsprogramme und der Verwaltung von "Obra Social Dom Bosco", einem Sozialwerk, das der Pater Rosalvino 1983 gegründet hat. Die studierte Psychologin und Pädagogin weiß, wovon sie redet. Sie ist im sozialen Brennpunkt Itaquera aufgewachsen, kennt das Leben in dem Gebiet mit den eng aneinander gebauten Hochhäusern und den Favelas. Zwei dieser Armenviertel befinden sich hinter und neben dem neuen Stadion. Sie müssen beim Anpfiff am 12. Juni verschwunden sein. "Obra Social Dom Bosco" sucht gemeinsam mit der Stadtverwaltung nach einer guten Lösung. "Wohnraum ist wichtig. Und er darf nicht abseits sein, sonst finden die Menschen keine Arbeit", erklärt Vitale de Melo.

"Obra Social Dom Bosco" kümmert sich mit Programmen und Angeboten täglich um rund 4000 bis 5000 Kinder und Jugendliche in Itaquera. Raus aus der Perspektivlosigkeit, weg von der Straße, den Drogen, den Banden, der Kriminalität und Gewalt, lautet die Maxime, so die Sozialarbeiterin: "Wir müssen den Kindern etwas bieten, das attraktiver ist als die kurzfristige Befriedigung, die sie im Drogenkonsum oder anderem finden. Die Kinder mögen Samba, bewegen sich gerne, lieben die Musik und tanzen, haben Spaß. Sie lernen Regeln. Viele Kinder haben nie gelernt, Regeln einzuhalten."

Hoffnung auf ein besseres Leben

Sogar große Karrieren kommen zustande. "Sieben Buben aus dem Turntraining sind heute beim Cirque du Soleil, einer lebt in Deutschland. Diese Buben haben am Kunstturntraining teilgenommen und sind aufgefallen, weil es sonst ja eher etwas für Mädchen ist. Die Buben haben das so gerne gemacht und verschiedene Preise gewonnen", erzählt Vitale de Melo. "Schließlich wurde der weltbekannte Zirkus auf sie aufmerksam." Talente werden entdeckt und gefördert, natürlich auch beim Fußball, für den Brasilien schließlich weltweit berühmt ist. Fußball gehört zum Leben, auch für Pedro (Name geändert; Red.), der bereits dreimal im Gefängnis saß, Drogen nahm und nun am Programm "Begleitete Freiheit" teilnimmt, um sein Leben zu ändern. "Seit ich klein bin, spiele ich Fußball. Ich bin Fan von Corinthians, und das neue Fußball-Stadion ist der Palast der Corinthians. Ich bin sehr neugierig auf die WM, freue mich darauf und mache einen Englisch-Kurs, damit ich die Besucher der WM begrüßen kann", berichtet Pedro. "Ich glaube, dass die WM gut ist für Itaquera, weil viele Leute hierher kommen, die anders sind, auch die Frisuren werden anders sein."

So ist die Freude vieler Menschen auf die WM mit Hoffnung verbunden, auch auf eine verbesserte Infrastruktur und neue Arbeitsplätze vor Ort - auf ein menschenwürdiges Leben. Die täglich rund 6.000 kostenlos ausgegebenen Mahlzeiten lassen die alltägliche Not in Itaquera erahnen. Doch trotz Ärger, Wut und Enttäuschungen freuen sich selbst manche Skeptiker auf die WM. So auch José: "Ich werde mir die Spiele sicher auf der großen Leinwand ansehen. Gut ist ja, dass das Stadion anschließend weiter genutzt wird. Klar. Eine Fußball-WM so hautnah mitzuerleben, ist schon etwas Besonderes."

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