Männer pfeifen der Gottesmutter nach

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"Wallfahrts-Kommunismus", Volksfest, Gottesdienst: alljährlich zu Pfingsten wird im Dorf El Rocio die Gottesmutter "auf andalusisch" verehrt.

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"Wallfahrts-Kommunismus", Volksfest, Gottesdienst: alljährlich zu Pfingsten wird im Dorf El Rocio die Gottesmutter "auf andalusisch" verehrt.

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Viva la Virgen del Rocio!, Hoch lebe die Gottesmutter, die Jungfrau vom Morgentau! Mit diesem Ruf öffnet ein Pilger eine weitere Flasche Sherry. Er ist auf dem Weg nach El Rocio, einer kleinen Ortschaft in der südspanischen Provinz Huelva. Ein winziger Ort mit weißgetünchten Häusern und einer riesigen Kirche. Am Pfingstwochenende ist El Rocio das Ziel einer Wallfahrt, an der alljährlich rund eine Million Pilger teilnehmen.

Sie kommen aus ganz Andalusien - mit von Ochsen gezogenen Planwägen, mit von Eseln und Mulis gezogenen Wägelchen, hoch zu Roß oder zu Fuß. Neuerdings werden auch Traktore und Jeeps vor die Planwägen gespannt. Eine bunte, fröhliche, laute Menge.

Der überwiegende Teil der Wallfahrer ist in Hermandades, in Bruderschaften, organisiert. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Rocieros, der Wallfahrer allgemein, und zu einer bestimmten Hermandad im speziellen, sind wichtige soziale Komponenten dieser Wallfahrt. Wesentliche Charakteristika der andalusischen Lebensweise wie Gemeinschaftssinn und Kommunikationsbedürfnis, ausgeprägte Emotionalität und ein gewisses theatralisches Element können hier ausgelebt werden. Die Bruderschaften sind streng hierarchisch organisiert und männlich geprägt; durch unterschiedliche Farben der Hutbänder oder Kordeln heben sie sich voneinander ab. Die mehr als 70 Hermandades del Rocio bilden für die Pilger auch über die eigentlichen Tage der Wallfahrt hinaus das ganze Jahr über einen wichtigen Teil des sozialen Umfeldes, eine religiös-organisatorisch-soziale Stütze.

Der Rocio beginnt lange vor Pfingsten: die Planwägen müssen geputzt und mit Blumen geschmückt, Matratzen und Decken auf den Dächern festgezurrt, Speisen vorgekocht und Getränke eingekühlt werden. Mehr als eine Woche sind die Pilger unterwegs.

Für die meisten führt der Weg von Sevilla nach Sanlucar de Barrameda (einem der Orte des "Sherry-Dreiecks"). Dort müssen Tiere und Wagen, Wallfahrer und Traktore auf großen Fähren über den Guadalquivir gebracht werden. Ein riesiges Spektakel! Am jenseitigen Ufer beginnt das Coto de Donana, eines der größten und schönsten Naturreservate Europas. Tagelang ziehen die Karawanen bei oft brütender Hitze durch riesige Sanddünen und ausgedehnte Pinienwälder. Geschlafen wird im Freien oder in einem der Planwägen, gegessen wird in großen Gruppen. Wichtig ist dabei das bewußte Erleben der Gemeinschaft, der Gruppe. Während einer Woche nicht-alltäglicher Zeit teilen die Rocieros intensive Glaubenserfahrungen, schöne Naturerlebnisse und die mitgebrachten Güter. Somos todos hermanos, wir sind alle Brüder, ist der Grundtenor dieses "Wallfahrts-Kommunismus".

Der camino, der Weg, ist Synonym für Anstrengung, Hitze und viel, viel Staub. Die Wallfahrer nehmen die Anstrengungen mit einem Glas Sherry in der Hand auf sich, singen und tanzen zu Ehren der Gottesmutter und lassen den Rocio als Manifestation südspanischer Volksfrömmigkeit zur Fiesta werden. Viva la Virgen del Rocio!

Beten und Flamenco In der Nacht vor dem Pfingstsamstag trifft ein Großteil der Bruderschaften in El Rocio, ein. Das Pfingstwochenende ist geprägt vom gemeinsamen Rosenkranz, dem feierlichen Vorbeiziehen der einzelnen Bruderschaften an der weißen Kirche, den Messen der einzelnen Hermandades und dem großen Hochamt am Pfingstsonntag. Doch auch in diesen Tagen reißen das Einladen und Eingeladen-Werden, das gemeinsame Essen und Trinken, das Singen und Flamenco-Tanzen bis in die frühen Morgenstunden sowie die stolzen Defilees hoch zu Roß nicht ab.

Der Rocio hat neben der religiösen und gesellschaftlichen auch eine ökonomische Komponente: während der Pfingstfeiertage wachsen die Preise für Nahrungsmittel und Devotionalien in den Himmel. Auch die Besitzer der Buden, mittlerweile zu einem Rummelplatz zusammengewachsen, können sich über mangelnden Umsatz ebensowenig beklagen wie jene, die in ihren Häusern Schlafplätze in dichtgedrängtzen Dreistockbetten anbieten. Die "Logistik" von El Rocio bleibt ein Rätsel: ein winziger Ort verkraftet riesige Menschenmassen, und es kommt nie zu nennenswerten Un- oder Überfällen.

Einer der Höhepunkte der Wallfahrt ist das sacar a la Virgen: In der Nacht vor dem Pfingstsonntag wird die schwere Statue der Gottesmutter samt ihrem riesigen hölzernen Podest von jungen Männern über die Absperrung in der Kirche gehoben und unter dem Jubel der Menge ins Freie getragen. Im Lauf der Nacht und oft bis spät in den Vormittag hinein "besucht" die Statue die Häuser der Bruderschaften. Der Weg durch die staubigen Gäßchen ist nicht vorbestimmt, ständig ändern die Männer unter dem massiven Gewicht der Statue die Richtung, werden von der Menge weitergedrängt, kämpfen um die Ehre, die Statue tragen zu dürfen, lösen einander völlig verschwitzt ab. Die Menschen versuchen, wenigstens den Saum des Kleides der Statue zu berühren, reichen Kinder über die Köpfe der Masse in Richtung der Madonna. Und überall Raketen, die "als Grüße an den Himmel" verstanden werden, und unzählbare Sherry-Flaschen, die auf das Wohl der Gottesmutter geöffnet und getrunken werden. Die Menschen beginnen rhythmisch zu klatschen, und schon findet sich das erste Paar für einen Flamenco.

Rollen und Hierarchien ändern sich während der Zeit der Wallfahrt. Nicht nur, daß die Wallfahrer einander duzen, der Rocio ist auch geprägt von eigenen Liedern, die spontan gereimt und gesungen werden. In ihnen werden nicht nur die Liebe zur Virgen del Rocio, sondern auch Tratsch und unausgesprochene Konflikte verpackt.

Die "Gleichheit" der Wallfahrer findet Ausdruck auch in der Kleidung: die Frauen tragen farbige Flamenco-Kleider, die Herren den klassischen traje corto. Sollte die spanische Königsfamilie am Rocio teilnehmen (was immer wieder geschieht), dann trägt die Königin die gleichen, farblich auf das Kleid abgestimmten Plastikohrringe, wie alle anderen Wallfahrerinnen auch.

Die piropos, oft sehr anzügliche Komplimente, sind weiteres Spezifikum des Rocio. Diese Komplimente beziehen sich am Pfingstwochenende weniger auf die jungen rassigen Andalusierinnen als auf die Gottesmutter selbst. Männer jeden Alters pfeifen der vorübergetragenen Statue hinterher und bewundern lautstark ihren prachtvollen Teint und ihre schönen Brüste. Auf den Schultern ihrer Pfarrangehörigen getragene Priester bewundern die strahlenden Augen der Virgen del Rocio und besingen inbrünstig ihre Schönheit. Auf den ersten Blick erscheinen diese der Madonna aus unzähligen Männerkehlen hervorgebrachten Gebete etwas unpassend, aus dem Herzen kommend sind sie aber vielleicht eine der schönsten und innigsten Formen der Marienverehrung.

Maria war Andalusierin Nicht nur um die Ehre, die Statue der Gottesmutter in der Nacht auf den Pfingstsonntag tragen zu dürfen, sondern auch um ihre Liebe wird gerangelt. Jede Bruderschaft beteuert, von der Virgen del Rocio bevorzugt zu werden; alle Wallfahrer sind sich einig, daß die Gottesmutter Andalusierin ist und sich Gott am siebten Tag der Schöpfung in diesem Land ausgeruht hat.

Am Abend des Pfingstmontag reist ein großer Teil der Mitfeierenden ab. Die Atmosphäre ändert sich, es wird ruhiger. Das ist auch die Stimmung des camino de vuelta, des Heimweges, den die einzelnen Hermandades meist nach einer kurzen Nacht am Dienstag früh antreten. Der merklich kürzer gewordene Zug der Planwagen, Jeeps, Reiter und Fußwallfahrer setzt sich in Richtung ihrer Heimatorte in Bewegung. Auch für den Rückweg benötigen die Wallfahrer meist drei Tage. Es sind die Rocieros verdaderos, die "echten" Pilger, die sich noch ein paar Tage Urlaub genommen haben und sich deutlich erschöpft auf den Heimweg machen. Die Kleidung ist verschmutzt und staubig, auch die Sherryvorräte sind kleiner geworden. Bei Sanlucar verlassen sie das Naturschutzgebiet wieder. (Spezielle Reinigungstrupps benötigen Wochen, um den Müll zu entfernen.)

Offizieller Schluß der Wallfahrt ist der Einzug der Hermandades in ihren Heimatort, ihre Stadt. Die Rocieros werden meist von einer großen Menge empfangen, von Freunden und Angehörigen, die schon früher zurückkommen mußten, von den Kindern und älteren Verwandten, für die der Weg zu anstrengend gewesen wäre, oder auch einfach von Schaulustigen. Der Zug durch die Straßen wird zum Fest, zum Triumphzug der Virgen del Rocio.

Die Gottesmutter ist das Zentrum, um das sich diese Tage der Wallfahrt wie ein Karussell drehen; an sie sind alle Gebete und Lieder gerichtet - auf sie werden während dieser Tage unzählige Male die (Plastik-)Gläser erhoben. Gottesdienst und Volksfest, beten und tanzen, lachen und weinen liegen hier eng beieinander. Die Grenze kann nicht klar gezogen werden. Das andalusische Volk verehrt seine Gottesmutter auf ganz spezielle Art.

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