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Zur Uraufführung von Michael Radulescus Passion im Grazer Dom.

Kann man nach Bach heute noch den neutestamentlichen Passionsbericht vertonen? Soll der Bericht gar nur gesprochen werden wie bei Krzysztof Penderecki? Soll man einen Gegenwartsbezug herstellen? - Die Fragen, die den in Wien lebenden Michael Radulescu während der Arbeit an seiner im Auftrag der Gesellschaft der Domchorfreunde Graz komponierten Passion bewegten, charakterisieren treffend das Spannungsfeld, in dem sich zeitgenössische Passionsmusik bewegt: Als Wiederbelebung einer der frühesten Traditionen der abendländischen Kunstmusik ist sie zugleich aktualisierende Anknüpfung und kreative Neuschöpfung. Der gewählte Zugang zur Thematik und der Umgang mit den biblischen Quellentexten spiegelt immer auch den persönlichen Standort des Komponisten innerhalb der kompositorischen Traditionen der neuen Musik.

Wohl das wirkungsmächtigste Beispiel für die Aktualität der Gattung ist Pendereckis Lukas-Passion. Auch dieses Werk, mit dem der damals 32-jährige Pole 1966 schlagartig international bekannt wurde, steht im Spannungsfeld von hochmodernen 12-Ton-Techniken, Clustern, Geräuscheffekten und gattungstypischen Formen. Der lateinische Text wird durch avantgardistische Vokaltechniken quasi dekonstruiert.

Michael Radulescu hat für seine Version vom Leiden und Tod unsres Herrn und Heilands Jesus Christus Textauszüge aus den drei synoptischen Evangelien, Matthäus, Markus und Lukas, in Übersetzungen von Fridolin Stier (1989) und Carl Weizsäcker (1900), kombiniert. Die erzählende Darstellung ist zwei von Flöten und Kontrabässen unterstützten Chören übertragen. Die Sprache wird nicht wie bei Penderecki aufgebrochen; das in Anlehnung an frühmittelalterliche Vortragsweisen gesungene Wort ist vielmehr Ausgangspunkt und zentraler Fokus der Musik. Radulescus virtuos komponierte statische Klang-Cluster formen eine zeitlos anmutende Aura, einen Klangraum, der den durchwegs homophon gesetzten Texten als Resonanz dient. In seiner Wortdeutlichkeit lädt Radulescus Werk zu mystischer Versenkung und Reflexion des Geschehens ein, ähnlich der 1985 entstandenen Johannes-Passion des Esten Arvo Pärt, die mit archaisch anmutender Klangreduktion ebenso meditative Wirkung erzielt.

Radikale Umdeutung, wie sie etwa Wolfgang Rihms 2000 komponierte Passions-Stücke nach Lukas in Konfrontation von jüdischer und christlicher Tradition unter Einbeziehung von Texten Paul Celans intendieren, hat Radulescu nicht im Sinn. Er zielt auf eine am antiken Musikbegriff orientierte Verschmelzung von Wort und Klang und steht damit Carl Orff nahe. Deklamationsrhythmik und Stimmenverdichtung illustrieren markant dramatische Höhepunkte.

Unter der Leitung von Josef M. Doeller realisierten die Domkantoreien Graz und St. Pölten, studio percussion graz und das Grazer Domorchester das Werk mit beeindruckender Perfektion. Die Solostimmen, traditionsgemäß Jesus als Bass - tadellos Ulf Bästlein - und ein im Publikum positionierter, reflektierender Alt, brachten Momente des Aufbruchs ein, die man in den Chorpassagen mitunter etwas zu vermissen meinte. Zweifellos waren es die stärksten Augenblicke des Werkes, wenn sich Elizabeth Lagneaus unbegleitete Altstimme aus dem Vokalklang zu expressiven Extremzonen aufschwang: eine Intensivierung von Klage, die den Rahmen liturgischer Mystik, den geschlossenen Kirchenraum, weit hinter sich ließ.

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