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Avantgarde fürs Publikum

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Es ist noch gar nicht so lange her, daß im Dom zu Münster die Lukas-Passion von Krzysztof Penderecki uraufgeführt wurde. Der 30. März, der Tag, an dem dieses Ereignis stattfand, ist seitdem ein Datum der Musikgeschichte. Uber fünfzig Aufführungen in der ganzen Welt haben bislang das geistige Format und die musikalische Kraft dieser seit Bach bedeutendsten Passionsvertonung erwiesen und das Augenmerk auf einen zeitgenössischen Komponisten gelenkt, dem es gelungen ist, aus dem Teufelskreis der speziellen Festivals für neue Musik auszubrechen; denn diese Lukas-Passion findet starken Widerhall selbst beim sogenannten breiten Publikum, dessen Geschmack immer noch traditionell ist, das heißt: weitgehend vom Ideal des bloßen Schönklangs in der Musik geleitet und bestimmt wird.

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Es ist noch gar nicht so lange her, daß im Dom zu Münster die Lukas-Passion von Krzysztof Penderecki uraufgeführt wurde. Der 30. März, der Tag, an dem dieses Ereignis stattfand, ist seitdem ein Datum der Musikgeschichte. Uber fünfzig Aufführungen in der ganzen Welt haben bislang das geistige Format und die musikalische Kraft dieser seit Bach bedeutendsten Passionsvertonung erwiesen und das Augenmerk auf einen zeitgenössischen Komponisten gelenkt, dem es gelungen ist, aus dem Teufelskreis der speziellen Festivals für neue Musik auszubrechen; denn diese Lukas-Passion findet starken Widerhall selbst beim sogenannten breiten Publikum, dessen Geschmack immer noch traditionell ist, das heißt: weitgehend vom Ideal des bloßen Schönklangs in der Musik geleitet und bestimmt wird.

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Wie läßt sich der große Erfolg der Lukas-Passion erklären?

Woraus resultiert ihre Popularität?

Manche behaupten, nicht die musikalische Konzeption und Durchführung, sondern die Erfüllung religiöser Vorstellungen sei dafür verantwortlich; ein anderes Argument, Penderecki habe sich mit diesem Werk den vertrauten Normen des Publikums angepaßt, führt sich selbst ad absurdum.

Denn bei der ersten Begegnung mit dieser Lukas-Passion wird augenscheinlich, daß Penderecki hierin seine Vergangenheit nicht geleugnet hat.

Am 23. November 1933 in Debioa, Polen, geboren, studierte Penderecki Komposition an der Musikhochschule in Krakau. Seine Lehrer waren F. Skolyc- zewski, später Artur Malowski und wach dessen Tod Stanislaw Wiechowicz. 1958 machte Penderecki sein Diplom mit Auszeichnung und erregte bereits ein Jahr später großes Aufsehen: In einem vom polnischen Komponistenverband ausgeschriebenen Wettbewerb, für den die Werke anonym eingereicht werden mußten, wurden ihm alle drei ausgesetzten Preise zuerkannt. Die eingereichten und ausgezeichneten Werke waren: „Aus den Psalmen Davids“ für gemischten Chor, zwei Klaviere und Schlagzeug, „Emanationen“ für zwei Streichorchester und „Strophen“ für Sopran, Sprechstimme und zehn Instrumente. Mit der Aufführung der „Strophen“ beim Musikfest Warschauer Herbst 1959 trat Penderecki zum erstenmal vor die Weltöffentlichkeit. Pierre Boulez übernahm das Werk unmittelbar danach in seine Pariser Konzertreihe Domaine musical. Weiterer Aufstieg und künstlerische Entwicklung Pendereckis vollzogen sich ln den nächsten Jahren rasch und heftig.

1960 erregte er in Donau- eschingen Aufsehen mit dem Werk „Anaklasis“ für Streicher und Schlagzeuggruppen. Zahlreiche internationale Preise und Auszeichnungen schlossen sich an: 1960 Preis im Fitelberg-Wettbewerb, 1961 wurde „Threnos“

durch die „Tribüne Internationale des Compositeurs“ (UNESCO) ausgezeichnet, 1966 schließlich, nach der Uraufführung. der Lukas-Passion, erhielt Penderecki den Großen Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für Musik.

Bis zur Uraufführung der Lukas-Passion galt Penderecki als Vertreter eines extremen Avant- gardismus, der mit seinen Werken systematisch die Welt der Klang- und ‘ Geräuschfarben durchschritt. Bereits in „Anaklasis“ gelang Ihm eine Synthese der beiden akustischen Ebenen: Klänge schlagen in Geräusche um, Geräusche werden zu Klängen. Konsequenzen aus Schönbergs Klangfarbenmelodie verschränken sich mit der Erbschaft des Bruitismus und der Wiederaufnahme der von Ives und Cowell begründeten klangexperimentellen Linie.

In „Polymorphia“ und mehr noch in „Fluorescenses“ faßte Penderecki die Errungenschaften aus seiner Klangforschertätigkeit zusammen und brachte sie zu einem vorläufigen Abschluß, vorläufig insofern, als die hier anzutreffenden Klangwelten später zwar ln der „Sonate für Cello und Orchester“, 1964, und ebenso in der Lukas-Passion wieder auftauchen, aber in einer wesentlich gemäßigteren Form gegenüber „Fluorescenses", wo Penderecki nach eigenen Worten das Maß voll machte, indem er zur Realisierung solcher Klangzustände neben den herkömmlichen Instrumenten Glocken, Gongs, elektrische Klingel, Alarmsirene, Trillerpfeifen, Schreibmaschinen und umfangreiches Schlagwerk bis zur Donnermaschine verlangte.

Standen bis zu den „Fluorescenses“ vor allem Instrumentalwerke im Vordergrund des Schaffens von Penderecki, Werke also, die in der Verwendung unkonventioneller Mittel als reine „Farbenkompositionen“ aufzufassen sind, so überraschte der Komponist 1963 mit einem (nunmehr der Passion eingefügten) „Stabat mater“ für drei a-capella-Chöre, in dem er einen linearen, ganz klaren und einfachen Stil auf-

greift. In diesem Werk führt Penderecki musikalische Eigenheiten weiter, die bereits in seiner frühesten Vokalkomposition, den „Psalmen“, festzustellen waren und später in seiner Lukas-Passion wiederkehren sollten, so vor allem antiphonische Psalmrezitation und die aus der Zwölftönigkeit hervorbrechende Kantabilität des gregorianischen Gesangs.

Die Passion komponierte Penderecki 1963 bis 1965 dm Auftrag des Westdeutschen Rundfunks Köln. Für den Text wählte er neben Teilen aus dem Lukas- Evangelium Sätze aus der Liturgie der Karwoche und Psalmfragmente. Der Evangelienbericht in der lateinischen Sprache der Vulgata wird von einem Sprecher vorgetragen, die Worte Christi vom Bariton und die der Nebenfiguren vom Baß. Der eigentlichen dramatischen Handlung eingeschoben sind kontemplative Sologesänge und große a-capella- Chöre. In musikalicher Hinsicht hat Penderecki seine Herkunft nicht verleugnet: Neben der neuartigen Orchestertechnik, die er in seinen Klangfarbenpartituren ausgebildet hat, finden sich alle nur denkbaren Zwischenschichten der vertonten Sprache und des Sprachklangs. Vor allem der Chor kennt zahlreiche Ausdrucksarten von Singen, Flüstern und Sprechen bis zum Hohngelächter.

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