Tortillas haben ihm bei seiner Geburt das Leben gerettet; gelernt hat er in der "Universität des Lebens" und den politischen Aufstieg verdankt er Koka-Blättern: Evo Morales bleibt auch nach dem Referendum am Sonntag Boliviens "oberster Häuptling" und Präsident.
Evo Morales hat bei der Stimmabgabe seine Lieblingsschuhe an, ausgetretene blaue Sportschuhe mit weißen Streifen - gemäß der Devise seines Vaters: "Liebe deine Sachen und sie werden dir Glück bringen!" Denn obwohl ihm alle Umfragen vor dem Referendum über seine politische Zukunft am vergangenen Sonntag den Verbleib im Präsidentenpalast in La Paz prognostiziert haben - ein Glücksbringer kann nie schaden.
Die letzten Meter auf dem Weg zur Wahlurne geht der bolivianische Präsident durch einen Konfettiregen; das Wahllokal ist aufgrund der drückenden Hitze vor das Gemeindehaus in Cochabama herausverlegt. Eine indigene Frau hängt Morales eine aus Koka-Blättern und weißen Blumen geknüpfte Kette um den Hals und segnet ihren "Bruder Präsident". Nach ihm wird sie ihre Stimme für ihn abgeben - so wie rund 60 Prozent der Bolivianerinnen und Bolivianer, die für die Fortsetzung des "Projekts Morales" votieren.
Seit Dezember 2005 regiert Morales das Armenhaus Südamerikas. 473 Jahre nach dem letzten Inka-König Atahulpa, den die Conquistadores 1532 gestürzt haben, ist er damit der erste Indígena, der es in einem Teil der Anden an die Macht geschafft hat.
Narkoterrorist, Kommunist …
"Apumallku", oberster Häuptling, ist er seither für die Ureinwohner Boliviens. "Drogenzar", "Narkoterrorist" und "Indio-Kommunist" nennt ihn die bolivianische Opposition, vorwiegend Kreolen und Mestizen, die heutigen Nachfahren europäischer Einwanderer, die Morales nicht nur nicht akzeptieren, sondern schlichtweg hassen.
Kern von Morales' Konflikt mit den europäischstämmigen Bolivianern ist sein Versuch, den Wohlstand aus dem rohstoffreichen Osten und Süden des Landes zugunsten der vor allem im westlichen Hochland lebenden indigenen Bevölkerung umzuverteilen.
"Der Graben zwischen den Bevölkerungsgruppen ist so tief geworden, dass niemand weiß, wie es weitergeht", analysiert Werner Hörtner, Bolivien-Kenner des Südwind-Magazins, die Situation, die sich durch das Referendum nicht verbessert hat. Denn so wie Morales wurden auch seine schärfsten Widersacher, die Präfekten der Ost- und Südprovinzen, teils eindrucksvoll in ihren Ämtern bestätigt. Die Gefahr der Abspaltung dieser Regionen vom Zentralstaat und der Zerfall Boliviens ist damit größer als je zuvor.
Schlimmster Job der Welt!
Für Hörtner ist das bolivianische Präsidentenamt "der schlimmste Job der Welt". Und die Statistik bestätigt diesen Befund: Morales ist der 66. Präsident seit der Unabhängigkeit Boliviens 1825. Zwischen 1978 und 1980 sieht das Land fünf Präsidenten kommen und gehen. Und in den folgenden zwei Jahren gibt es nicht weniger als acht Staatschefs oder Regierungsjuntas.
Nach seinem Erfolg beim Referendum hat Morales jetzt die für bolivianische Verhältnisse einmalige Chance, auch die zweite Hälfte seiner Amtszeit im Präsidentenpalast zu regieren.
Zum ersten Mal in den Regierungssitz kommt Morales während seiner Wehrdienstzeit 1979 - ausgerechnet unter dem Befehl eines Putschisten-Generals; und in seine Militärzeit fällt auch ein zweite Ironie im Morales-Leben: Der spätere Koka-Bauer und Cocalero-Gewerkschaftsführer muss die Vernichtung von Koka-Plantagen mit Gewalt durchsetzen.Und laut Aussagen seiner Freunde gehorcht Morales seinen Vorgesetzten. Keine zwei Jahre später wird er auf der anderen Seite stehen, Widerstand leisten und für den Koka-Anbau als uralte Indigenen-Tradition kämpfen.
Drei von sieben überleben
Evo Morales kommt aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Wie arm er aufgewachsen ist, verdeutlicht ein Foto seines Geburtshauses in der Morales-Biografie von Muruchí Poma (siehe Buchtipp). Darauf ist ein geducktes Ein-Zimmer-Haus aus Lehmziegeln mit Fenstern wie Schießscharten und einem Strohdach zu sehen. Der Boden vor dem Haus ist sandig, es gibt keine Straße, keine Hausnummer, keine Bäume. Nur auf den angrenzenden Hügeln sind Kakteen zu sehen.
Mehr als die örtlichen Begebenheiten zeigt ein Blick in Morales' Familienchronik, wie hart der Existenzkampf für die Indigenas auf der Anden-Hochebene Westboliviens (gewesen) ist: Von den sieben Kindern, die Evos Mutter zur Welt bringt, überleben drei.
Und auch bei Evos Niederkunft am 26. Oktober 1959 sieht zunächst alles nach einer Totgeburt aus. Doch die Hebamme weiß um die lebensrettende Kraft des Geruchs von frisch gebackenen Tortillas für die Bewohner des kargen Altiplano, die nur einmal im Jahr zum Allerheiligenfest frisches Brot bekommen. Und auch wenn es stark nach der ersten Legende im Leben des späteren Präsidenten klingt, Evos ältere Schwester Esther besteht darauf, dass der Tortilladuft die starken Blutungen ihrer Mutter gestillt hat und Ibo gesund zur Welt gekommen ist.
Irgendwann in seiner Jugend - Achtung, wieder Legendengefahr! - entscheidet sich Ibo Morales für seine Umbenennung mit dem schlagenden Argument: "Der Vorname Evo ist einzig auf der Welt!" Und ebenfalls noch sehr jung soll Evo sich einmal im Kreise der Verwandten erhoben und angekündigt haben: "Eines Tages werde ich Präsident sein!"
Wenn er gesagt hätte: "Ich werde Fußballprofi!", wäre das in diesen Jahren eher vorstellbar gewesen. Um sich die Zeit beim Schafe- und Lamahüten zu vertreiben, dribbelt nämlich der junge Evo mit der bolivianischen Form des "Fetzenlaberls" und seinem Hündchen Trebol tagaus, tagein um die Wette.
Und diese Leidenschaft erhält er sich bis ins Präsidentenamt. Auch beim EU-Lateinamerika-Gipfel vor zwei Jahren in Wien bricht Morales das Eis zwischen sich und Lula da Silva mit dem Angebot: "Ich würde sehr gern mit dem Präsidenten von Brasilien Fußball spielen." Mit der Verstaatlichung der bolivianischen Erdgasförderung hat Morales zuvor viel Ärger mit dem Nachbarn Brasilien heraufbeschworen.
Werner Hörtner erinnert sich sehr positiv an die Wien-Auftritte von Morales: Im Gegensatz zum Venezulaner Hugo Chávez, der sein Publikum mit stundenlangen Vorträgen gelangweilt hat, konnte der Bolivianer "die Leute mit seiner sympathischen Art für sich gewinnen".
Im Vergleich der Staatsoberhäupter Südamerikas wird Morales gerne als eine von Chávez geleitete Marionette hingestellt. Ein Vergleich, den Biograf Muruchí Poma entschieden zurückweist: "Für die Gringos", sagt Poma, "ist es einfacher, die sozialistischen Ideen von Karl Marx zu widerlegen, als die Logik der Andenbewohner zu verstehen - deshalb ziehen sie es vor, Morales als sozialistischen Indio zu betiteln."
Gewissen statt Absahnen
Laut Poma, der Morales begleitet und studiert hat wie kein anderer, bedeutet der Morales-Sozialismus jedoch weder Volkseigentum noch Diktatur des Proletariats, sondern "Gleichheit und Rückverteilung des Reichtums". Im "Manifest von Orinoca" beschreibt Morales sich und seine Anhängerschaft als "eine linke, indigene und nationale Volksbewegung; eine Bewegung des Gewissens und nicht des Absahnens".
Und dass er sich selbst an diese Vorgabe hält, zeigt seine Vorliebe für abgetragenes Schuhwerk und eine sich und den anderen bolivianischen Regierungspolitikern auferlegte Gehaltskürzung um die Hälfte auf 15.000 Boliviano oder knapp 1500 Euro. Gemäß der sittlichen Vorgaben seines Aymara-Volkes: "Stehle nicht! Lüge nicht! Faulenze nicht!"
Buchtipp:
Evo Morales - Die Biografie
Von Muruchí Poma
Militzke Verlag, Leipzig 2007 geb., 222 Seiten, €29,90