Die Realität als Irrwitz

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Lydia Mischkulnig seziert in ihren Romanen, Erzählungen und Hörspielen die Abgründe menschlicher Existenz.

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Lydia Mischkulnig seziert in ihren Romanen, Erzählungen und Hörspielen die Abgründe menschlicher Existenz.

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"ich habe zu viele Horrorfilme gesehen, dachte Leon. Das Gehirn hat keine Kontrolle über die Träume, doch Ahnung vom Gebrauch der Wünsche." Diese Sätze aus Lydia Mischkulnigs neuem Roman treffen mitten ins Zentrum der Thematik ihrer Bücher, in die Abgründe menschlicher Existenz. Auch bei der Lektüre ihrer Erzählungen und Romane fühlt man sich nicht selten wie in einem Horrorfilm, denn Idylle schlägt unversehens in Grauen um. Die Szenarien und Konstellationen, die Mischkulnig in ihren Texten inszeniert, sind so aberwitzig und skurril, dass sie kaum in den Verdacht geraten, realistische Beschreibungen der Wirklichkeit zu sein. Auch in ihrem jüngsten Roman "Vom Gebrauch der Wünsche" ist Lydia Mischkulnig das Kunststück gelungen, eine Versuchsanordnung zu konstruieren, die auszuloten versucht, wie sehr Gefühle von ökonomischer Vernunft gesteuert sind und sich dennoch Leidenschaft und Sexualität bisweilen jeglicher Kontrolle entziehen können.

Leon verbringt als Kind einige Zeit in der "Villa Aurora", einem privaten Altersheim, in dem seine alleinerziehende Mutter arbeitet. Dass es einige dunkle Flecken in der Geschichte des Hauses und seiner Bewohner gibt, wird angedeutet, die Zimmer sind "gefüllt mit Mördern und Irren" heißt es mit Bezug zum Titel einer Erzählung von Ingeborg Bachmann. Vor allem Giovanni, einem vermögenden Bewohner, soll Leon als Gegenleistung für das Versprechen seines Erbes zu Diensten sein. Und weil sich dieser wünscht, "von einer jungen und hübschen Enkelin unterhalten zu werden", wird Leon in Mädchenkleider und Lackschuhe gesteckt.

Er erledigt erfolgreich seine Aufgabe und schließt Freundschaft mit dem alten Mann. Als dieser eines Tages mit Genickbruch aufgefunden wird und ein Mord nicht ausgeschlossen, wenn auch nie bewiesen wird, trauert er lange um ihn. Beim argentinischen Tangotanz mit Giovanni hat Leon eines Tages auch die Tänzerin Irmgard kennen gelernt, die er nicht vergessen kann und die Jahrzehnte später noch einmal schicksalhaft in sein Leben tritt. Zu diesem Zeitpunkt ist Leon, erfolgreicher Astronom und Medizintechniker, geschieden von seiner Frau, die sich benahm, als wäre sie "mit der Literatur verheiratet und ginge fremd mit der Familie". Die drei Kinder sind erwachsen, und er sucht vergeblich seine Einsamkeit durch den Besuch von Tanzveranstaltungen zu bekämpfen. Die Wiederbegegnung mit Irmgard konfrontiert ihn mit seinen Begierden und Leidenschaften und ermöglicht einen anderen Blick auf seine Kindheit.

Entwürfe weiblicher Identität

Wie in vielen ihrer Texte reflektiert Mischkulnig auch in diesem Buch den Prozess des Schreibens und ironisiert damit ihre eigene Autorinnenposition. Über die Arbeit der dichtenden Ehefrau von Leon heißt es: "Beim Schreiben versagte ihr jede Kontrolle, dabei forschte sie nach dem rechten Maß für die Realität. Sie bediente sich der Lebensläufe, soweit es nötig war. Sie nahm, was sie brauchte, und formte Leon zu einem karrieristischen Monster, weil es ihr in die Dramaturgie passte."

Schon in ihrem ebenso spröden wie gelungenen Roman "Umarmung"(2002) setzt sich Lydia Mischkulnig mit der Problematik des weiblichen Schreibens und mit Entwürfen weiblicher Identitäten auseinander. "Mein Ich ist ein Zufall", heißt es an einer Stelle am Beginn dieses Romans und später einmal: "Ich bin heute wer und werde folglich einmal wer gewesen sein. Wer genau ist fraglich." Die Autorin weiß, dass Identitäten nur in der Sprachform des Plurals zu beschreiben sind und nützt diese Erkenntnis, indem sie die spielerischen und sprachlichen Möglichkeiten des In-die-Haut-einer-Anderen-Schlüpfens untersucht. Die Hauptakteurinnen sind die Ich-Erzählerin, LM und Agathe. LM - das sind nicht zufällig die Initialen von Lydia Mischkulnig. Aber noch raffinierter wird die Konstruktion, nachdem LM, ebenfalls Schriftstellerin, in die Haut von Agathe schlüpft. LM wird zur Verkörperung ihrer literarischen Erfindung, die Identifikation ist vollkommen, aber aus der Lust daran wird am Ende der Zwang, in einem anderen Körper zu stecken, aus dem es kein Entkommen gibt.

Spannend wie ein Thriller

Ohne Larmoyanz und gekonnt ironisch entstellt Mischkulnig in ihren Texten sprachliche Rollenzuweisungen bis zur Kenntlichkeit, weder Frauen noch Männer werden dabei geschont. So analysiert sie in "Schwestern der Angst"(2010), einem Familienroman der anderen Art, die obsessive Fixierung einer Schwester auf die andere. Kühl und nüchtern wird der Fall aus der beklemmenden Perspektive der "wahnsinnigen" Renate erzählt, die ihre jüngere Schwester Marie als Stalkerin verfolgt. Renate sucht Marie die Mutter zu ersetzen, die bei ihrer Geburt gestorben ist, und macht sie zum Objekt ihrer Liebesgefühle, die später in Hass umkippen. Wie in einer Spirale steigern sich die Verletzungen und Selbstzerstörungen, die Grenzen zwischen Einbildung und Wirklichkeit verschwimmen bis zum dramatischen Finale.

Ganz besonders gut beherrscht Lydia Mischkulnig die Technik des Suspense und ihre Texte sind tatsächlich -wie der Klappentext von "Schwestern der Angst" verspricht - "spannend wie ein Thriller". Das trifft aber nicht nur auf ihre Romane zu, sondern auch auf ihre Erzählungen, die in den Bänden "Sieben Versuchungen"(1998) und "Macht euch keine Sorgen" (2009), dessen Untertitel "Neun Heimsuchungen" prophezeit, versammelt sind.

Lydia Mischkulnig führt in ihrem jüngsten Roman "Vom Gebrauch der Wünsche" wieder auf ebenso kluge wie unterhaltsame Weise vor, dass die Realität doch ein alltäglicher Irrwitz ist.

Vom Gebrauch der Wünsche

Roman von Lydia Mischkulnig

Haymon 2014 352 S., geb., € 22,90

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