Falstaff oder Die Anarchie der Sinne

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Die Staatsoper bringt eine Neuinszenierung von Verdis "Falstaff" heraus und stellt damit einen der stärksten Mythen der Operngeschichte auf die Bühne.

Nur selten werden Bühnenfiguren zu Ikonen. Wenn es allerdings einmal funktioniert hat, dann sprengen sie den Rahmen der letztlich doch begrenzten Bretter, die die Welt bedeuten, bei weitem. Die Worte "Er ist ein Don Juan" versteht jeder und weiß, auch wenn er Mozarts "Don Giovanni" nie gehört hat: das ist ein Weiberheld. Ob jeder bei "Parsifal" sofort an einen "reinen Toren" denkt, sei indes bereits dahingestellt. Fest steht jedoch, dass ein Zeitgenosse, der im Ruf steht, "ein Falstaff" zu sein, von jedem - ob er nun der A-, B- oder C-Schicht entstammt - für einen Fresser gehalten wird. Und zwar, wie Bruno Kreisky einmal anmerkte, als er seinem in Ungnade gefallenen Kronprinzen Hannes Androsch dessen gute Kontakte zum gleichnamigen Gourmetmagazin vorwarf, für "den größten Fresser der Welt".

Se Falstaff s'assottiglia non è più lui.

Wenn Falstaff abmagert, ist er nicht mehr er selbst.

Der Bauch ist sein Königreich, das Falstaff, wie er gleich zu Beginn der Oper im Gasthaus "Zum Hosenbande" erklärt, "wachsen lassen muss". Sir John steht auch nicht an, sich für die treuen Dienste seines behäbigen Begleiters in der vielleicht schönsten, tiefsten und ehrlichsten Stelle der Oper - "Va, vecchio John" - entsprechend zu bedanken, und am Beginn des dritten Aktes würdigt er seine Wampe gleich noch einmal: "Hätte mich nicht mein gewaltiger Bauch über Wasser gehalten, so wäre ich sicher ertrunken."

Der Bauch ist vielleicht sogar das Beste an Sir John Falstaff, der, wie Tito Gobbi, der diese Partie unzählige Male auf der Opernbühne überzeugend verkörperte, einmal sagte, ein "starker Mensch" ist, der sich "so sinnlich wie wagemutig, mit beherztem Humor aus den schwierigsten Situationen herauswinden kann".

Doch dieser Falstaff - wir erkennen es gleich zu Beginn der Oper - ist wahrlich kein guter Mensch. "Seine Eitelkeit ist unermesslich", bestätigt auch Gobbi, der es wissen muss. Sir John ist aggressiv, ausschweifend, rauflustig, ständig in Geldnöten und daher auf das Geld anderer aus. Wie sagt doch gleich Prinz Harry, der spätere Heinrich V., bei Falstaffs Erfinder William Shakespeare? "Worin ist der überhaupt gut außer im Kosten und Trinken von Sekt, worin ist er lobenswert außer in überhaupt gar nichts?"

Kurzum: Der Mann hat keine Ehre.

Può l'onore riempirvi la pancia? No.

Kann die Ehre eure Mägen füllen? Nein.

Von Falstaffs Ehrbegriff führt eine literarische Gerade schnurstracks zum schlankeren, aber wesensverwandten Mackie Messer aus Bert Brechts "Dreigroschenoper", für den "zuerst das Fressen und dann die Moral" kommt. Die Macht der Verhältnisse hat für Mister Macheath und Sir Falstaff eine gleichermaßen klare wie verheerende Antwort: Sie schickt Mackie Messer auf den Galgen (von dem Bert Brecht ihn nur durch den Kunstgriff eines Deus ex machina befreien kann); und Prinz Harry schickt, kaum zum König gekrönt, den väterlichen Freund seiner wilden Jugend mit recht deutlichen Worten in die Verbannung. Mit hedonistischen Anarchisten vom Schlage Falstaffs ist nämlich kein Staat zu machen, denn Sir Johns Bauch ist nicht zuletzt ein Symbol für den Widerstand, den der sinnenfrohe Anarchist einer von ihm zutiefst verachteten Welt entgegensetzt.

Mondo ladro. Mondo rubaldo. Reo mondo!

Schlechte Welt. Elende Welt. Böse Welt!

Auch Verdi hat diese Abgründe hinter der Maske des Komödiantischen sehr wohl verstanden und (im Gegensatz zu Otto Nicolai in den "Lustigen Weibern von Windsor") mitkomponiert. Musikologen haben den Falstaff daher auch mit Recht immer wieder in enge tonale Nähe zum Jago aus "Otello" gerückt - jenem Bösewicht, der an einen "dio crudel", einen grausamen Gott, glaubt und dessen Bosheit ins Bodenlose mündet. Falstaff ist von der Schlechtigkeit der Welt nicht minder überzeugt als Jago, glaubt aber an gar keinen Gott, sondern fühlt sich mitsamt seinem Bauch in einem Wolkenkuckucksheim zwischen Irdischem und Göttlichem mit einem Sicherheitsabstand nach unten und oben bestens verortet. Gerade daraus bezieht Falstaff jedoch auch jene anarchische Souveränität, die ihn mit Finsterlingen wie Jago oder dem Hagen der "Götterdämmerung" verbindet. Es ist die Schrankenlosigkeit hemmungslos ausgelebter Individualität, die Sir Johns Bosheit sogar in die Nähe eines Marquis de Sade rückt. Dieser verstand es nach den Worten Maurice Blanchots, "aus seinem Gefängnis das Abbild der Einsamkeit des Alls zu machen". Nur dass Falstaffs Gefängnis nicht in der Bastille, sondern in seinem eigenen Körper liegt, und dass Sir Johns Obsessionen wie Sekt, Kaldaunensäcke und Kapaunenkeulen letztlich doch etwas sozialverträglicher sind als jene des göttlichen Marquis.

Tutto nel mondo é burla.

Alles auf Erden ist Spaß.

Falstaff ist, wie einer seiner vielen Biografen aus Literatur- und Musikwissenschaft schrieb, "ein Schuft ohne Bosheit, ein Lügner ohne Betrug, ein Gentleman ohne Würde, Anstand oder Ehre". Torkelnd durchquert er ein Reich zwischen Sarkasmus und Nihilismus, das der von Blanchot angesprochenen "Einsamkeit des Alls" schon sehr nahe kommt. Doch der Äther, den Falstaff dabei behäbigen Schrittes durchmisst, beginnt bei Verdi zu trillern, und mit ihm trillert, wie Falstaff selbst in seiner großen Arie zu Beginn des dritten Aktes singt, "jede Faser des Herzens [...] und der heitere Globus kommt aus dem Gleichgewicht in diesem Trillern". Giuseppe Verdi hat diese Botschaft am Ende des dritten Aktes dann auch konsequent zu Ende komponiert, indem er dem Finale die Form einer Fuge (lat. fuga = Flucht) verlieh und den "heiteren Globus" unter schallendem Gelächter und dem Motto "Tutto nel mondo é burla" ("Alles auf Erden ist Spaß") spektakulär in sich zusammenstürzen ließ.

Auf diese geniale Weise hat Verdi Falstaffs Tod gleich mitvertont. Shakespeare hingegen konnte nicht umhin, seinem schwergewichtigsten Geschöpf einen Epitaph zu setzen, indem er Mrs. Quickly gleich in einer der ersten Szenen von "Heinrich V." sagen lässt: "Nein, Falstaff ist gewiss nicht in der Hölle; er ist in Arthurs Schoß, wenn jemals einer in Arthurs Schoß gekommen ist." Und Arthurs Schoß, daran kann wohl kein Zweifel bestehen, ist jener Ort, aus dem die Mythen strömen.

Der Autor ist Gourmetkritiker und Kulturpublizist.

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