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Verdis „Falstaff” unter Bernstein

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Die Handlung der komischen Oper „Falstaff”, wie sie Arrigo Boito für Verdi nach Shakespeares „Heinrich IV.” und „Die lustigen Weiber von Windsor” gestaltet hat, der Titelheld, seine Gegenspieler, wie Verdi sie charakterisiert und musikalisch in Bewegung setzt — all das ist ebenso bekannt, wie daß mit „Falstaff”, des Meisters letzter Oper, ein Lebenswerk der Leidenschaft (von .„Nabucco” bis „Othello”) „mit einem Ausbruch von Heiterkeit endete”. Die Partitur zeigt einen filigranen, durchbrochenen Orchestersatz, welcher der aphoristischen Motivik der Singstimmen entspricht, und einen überaus beweglichen, geradezu nervösen Rhythmus, während die Harmonik von größter Einfachheit ist. Aber Verdis Meisterschaft läßt sich nie dazu verleiten, mit ihren kontrapunktischen Künsten über die Gestalten hinaus oder sie gar in Grund und Boden zu musizieren (wofür es in der neuesten Operngeschichte betrübliche Beispiele gibt). Der 80jahrige Verdi, der nach einigem Zöigem sein Opus magnum der „Scala” zur Uraufführung anvertraute, überwachte die Vorarbeiten mit peinlicher Genauigkeit und sicherte sich ein Vetorecht gegenüber jedem ihm unzureichend erscheinenden Sänger. Denn er wußte, daß dieses sein letztes Werk so neuartige und ungewöhnliche Anforderungen stellt, daß diese im unruhigen (oder routinemäßigen) Tagesbetrieb eines Operntheaters nur ganz ausnahmsweise erfüllt werden können.

Alle Voraussetzungen und Bedingungen für eine vollkommene Realisierung waren bei der Premiere an der Wiener Staatsoper am vergangenen Montag abend gegeben, vor allem durch das Zusammenwirken zweier hervorragender Künstler, die Falstaff” als ihr Lieblingswerk bezeichnen: Leonard Bernstein (Jahrgang 1918), Amerikas talentiertester und populärster Dirigent, und Dietrich Fischer-Dieskau (1925 geboren), eine der bedeutendsten Sängerpersönlichkeiten des deutschen Sprach- raums.

Bedenkt man, daß Fischer-Dieskau von Natur kein Falstaff ist, so wird die Bewunderung für seine schauspielerische Leistung noch größer. Zudem schien der Sänger an diesem Abend in geradezu übermütiger Spiellaune zu sein. Fischer-Dieskaus Erscheinung beherrschte die Bühne, und seine in allen Lagen mächtige Stimme drang bis in den letzten Winkel des großen Hauses. Auch seine Gegenspieler waten stimmlich und darstellerisch von erster Qualität: primo et secundo loco Ilva Liga- bue als Mrs. Alice Ford und Rolando Panerai, ihr Mann, besonders reizend das junge Paar Graziella Sciutti als Ännchen und Juan Oncina Fenton, ferner Regina Resnik, Hilde Rössel-Majdan, Gerhard Stolze, Murray Dickie und Erich Kunz. Dank der ebenso straffen wie sensiblen Leitung durch Leonard Bernstein, dank seiner schlagtechnischen Geschicklichkeit und geisterfüllten Genauigkeit bildeten sie alle nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Orchester eine vollkommene rhythmische und klangliche Einheit.

Der berühmte italienische Theater- und Filmregisseur Luchino Visconti, der gemeinsam mit Ferdinando Scarfiotti auch die Bühnenbilder und die Kostüme geschaffen hat, gab uns das Exempel einer Inszenierung von größter Einfachheit und Natürlichkeit. Da wurde nichts stilisiert und hineingedeutet. Die realistischen Bühnenbilder waren freundlich und — welche Wohltat! — stets gut ausgeleuchtet, die Kostüme wenn auch nicht ganz zieitgerecht — kleidsam und von diskreter Buntheit. Im Ganzen: ein großer, ein glänzender Abend der Staatsoper und ihres Orchesters. Damit im Freudenbecher der Wermutstropfen nicht fehle: die letzte Szene im mondlichtdurchglänzten Park von Windsor ist dem Regisseur (nach einer zauberhaft schönen Verwandlung vor eben diesem Unglücksbild) völlig mißraten. Man muß dringend au ihrer baldigen Revision raten, denn auch die triumphale Schlußfuge über „Alles ist Spaß auf Erden” konnte diesen deprimierenden Eindruck nicht beseitigen, kaum abschwächen.

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