Geschmack der Erinnerung

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Mit "Lebensstufen" legt der englische Autor Julian Barnes einen offenen und gleichzeitig tröstlichen Essay-Band vor, über Zusammenfinden und Auseinandergerissen-Werden, Liebe und Tod.

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Mit "Lebensstufen" legt der englische Autor Julian Barnes einen offenen und gleichzeitig tröstlichen Essay-Band vor, über Zusammenfinden und Auseinandergerissen-Werden, Liebe und Tod.

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Wann immer ein neues Buch des Engländers Julian Barnes angekündigt wird, darf man diesem Ereignis mit Spannung entgegensehen. Kaum einem anderen Gegenwartsautor gelingt es mit vergleichbarer stilistischer Eleganz, auf ganz unterschiedliche Weise existenzielle Themen aufzugreifen, ohne sich in (pseudo)philosophischen Salbadereien zu gefallen. Neben seinem von "Flauberts Papagei" bis zu dem mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman "Vom Ende einer Geschichte" reichenden belletristischen Werk brilliert Barnes regelmäßig als Essayist, der das scheinbar Selbstverständliche aus den Angeln hebt.

Der Tod will lautstark beweint werden

2008 veröffentlichte er mit "Nichts, was man fürchten müsste" eine groß angelegte Meditation über den Tod. Ein halbes Jahr später wurde bei seiner Frau Pat Kavanagh, einer renommierten Literaturagentin, ein Gehirntumor diagnostiziert; siebenunddreißig Tage später starb sie daran. Julian Barnes' neues Buch "Lebensstufen", eine auf den ersten Blick nur lose miteinander verbundene Sammlung von drei Essays, erzählt in seinem letzten Teil vom Umgang mit diesem abgrundtiefen Schmerz. "Der Verlust der Tiefe" sind diese rund sechzig Seiten überschrieben, und sie zählen neben Joan Didions "Blaue Stunden" zum Packendsten, was in letzter Zeit über die Trauer eines Menschen geschrieben wurde.

Barnes will nicht zu jenen gehören, die sich still zurückziehen und ihre Empfindungen mit sich allein ausmachen. Er opponiert gegen die gesellschaftlichen Übereinkünfte der Dezenz, spricht offen darüber, an Selbstmord gedacht zu haben, beschwört die Geschichte von Orpheus und Eurydike, interessiert sich nicht mehr für das, was in der Welt geschieht, und versucht vergebens, Trost in der Überlegung zu finden, dass das Universum lediglich seine Arbeit mache. Kritischen Blickes verfolgt er, welche unsinnigen Ratschläge ihm Freunde und Bekannte geben, um den Tod der Geliebten zu "verarbeiten". Die Anschaffung eines Haustieres sei vielleicht nützlich oder ein längerer Paris-Aufenthalt.

Mit keinem dieser Vertröstungen will sich Barnes abfinden. Der Tod seiner Frau, mit der er über dreißig Jahre zusammen war, will beweint, will lautstark beweint werden - solange es erforderlich ist. Wissend, dass der Schmerz ein "Geschmacksverstärker der Erinnerung" ist, erweckt Barnes nie den Verdacht, dass ihm der Tod als bloßer Motor seines Schreibens zu dienen hat. Die Notwendigkeit dieser Prosa ist unabweisbar.

Wahrheit und Magie

Dass in der Liebe "Wahrheit und Magie" zusammenstoßen, das galt offensichtlich für die Geschichte von Julian Barnes und Pat Kavanagh. Die Sentenz freilich steht im zweiten Teil der "Lebensstufen", der gewissermaßen eine Vorgeschichte des Verlustes erzählt. Barnes erfindet eine nur wenige Monate währende Liaison zwischen dem Militär, Reiseschriftsteller und Flugenthusiasten Fred Burnaby und der legendären Schauspielerin Sarah Bernhardt. Vergeblich hofft der Offizier darauf, von dieser - Henry James zufolge - "Erscheinung mit einer bewundernswerten Eignung zur Auffälligkeit" erhört zu werden. Bernhardt weiß ihr eigenes Naturell einzuschätzen und hält sich für ungeeignet, Burnaby das zu geben, was er möchte. In Barnes' fingierter Episode kommt der Zurückgewiesene über diesen Schock nicht hinweg, Wahrheit und Magie sind keine dauerhaften Verbündeten.

Das Auftaktkapitel wiederum verfolgt einen anderen Lebensweg. Während sich Sarah Bernhardt und Fred Burnaby unterschiedlich intensiv für die Ballonfahrtunternehmungen des 19. Jahrhunderts begeisterten, kreisen Barnes' Betrachtungen nun um einen veritablen Pionier der Aeronautik, um Félix Tournachon. Als begeisterter Konstrukteur und Luftschiffer stieg er wieder und wieder in Ballons in den Himmel auf, bis er erkannte, dass die Zukunft den Schwerer-als-Luft-Maschinen gehören würde. Tournachon verknüpfte zwei seiner Leidenschaften miteinander und fügte - da schließt sich der Kreis der "Lebensstufen" - Bereiche zusammen, die vorher niemand zusammengefügt hatte: die Aeronautik und die Fotografie. Unter dem Namen "Nadar" zählte Tournachon zu den herausragenden Vertretern der neuen Kunstform Fotografie und machte mit seinen Luftaufnahmen Furore.

Spielerisch, wie man es von Julian Barnes gewöhnt ist, porträtiert er Menschen, die Grenzen hinter sich lassen und dadurch der Wirklichkeit Mysterien schenken. Es lohnt sich ungemein, diese sich spiegelnden Essays ein zweites, ein drittes Mal zu lesen, denn erst dann wird deutlich, wie Barnes den Schmerz über den jähen Verlust seiner Frau dadurch aufzufangen sucht, dass er uns und sich selbst Geschichten erzählt. Geschichten, von denen ein tröstender Effekt ausgeht, denn sie zeigen Menschen, die sich über sich selbst erheben -im Glück wie im Leid. Ja, selbst das Leid verzieht sich irgendwann, weil eine "unerwartete Brise aufgekommen" ist. "Wir sind wieder in Bewegung", damit schließt dieses Buch.

Lebensstufen

Essays von Julian Barnes. Aus dem Engl. von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch 2015

143 S., geb., € 17,50

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