Kein Blitzstrahl, kein Riese

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J. M. Coetzee, Literaturnobelpreisträger und zweifacher Booker-Prize-Träger, weigert sich, sein Leben der Öffentlichkeit zum Fraß vorzuwerfen. Stattdessen schreibt er es literarisch um.

Es gibt nicht viele Interviews mit dem südafrikanischen Literaturnobelpreisträger des Jahres 2003. J. M. Coetzee schenkt selten die Gelegenheit, ihn zu befragen – und reicht dann nicht das medial gewünschte Futter. Aus den wenigen Gesprächen kann man allerdings einiges über sein Literaturverständnis erfahren – und dass er sich weigert, seine literarischen Werke zu interpretieren: wozu hätte er sonst Literatur geschrieben. Der Sehnsucht nach „Human Touch“ oder gar Selbstentblößung ist Coetzee aber überhaupt nicht dienlich.

Unmöglich also, ein Porträt über den Menschen J. M. Coetzee zu schreiben, der sich weigert, seine Persönlichkeit der Öffentlichkeit zum Fraß anzubieten. Geschickt lenkt der Autor Blick und Interesse auf seine Literatur. Im Unterschied zu anderen Berühmtheiten schreibt der am 9. Februar 1940 in Kapstadt geborene Autor keine Werke, die die eigene Größe behaupten. Nach den beiden autobiografischen Romanen „Der Junge“ und „Die jungen Jahre“, in denen er in Er-Form seine Kindheit in Südafrika und die Jahre in London erzählt, widmet sich nun der dritte Roman „Sommer des Lebens“ den Jahren 1971–1977. Es ist die Zeit der Rückkehr aus den USA, wo er Literaturwissenschaft studierte, nach Südafrika, wo 1974 mit „Dusklands“ seine Karriere als Schriftsteller beginnt.

Erinnerndes Erzählen – und Wahrheit?

Um diese Jahre zu erzählen, wählt Coetzee, der seit 2002 in Australien lebt, akkurat die von ihm aus guten Gründen stets verweigerte Form des Interviews. Er erzählt seine eigene Biografie anhand von (fiktiven) Gesprächen, die ein (fiktiver) Biograf mit fünf Personen geführt hat. Sie haben John Coetzee in diesen Jahren kennengelernt und vielleicht eine Spur in Coetzees Leben, möglicherweise auch in seiner Literatur hinterlassen.

Die Problematik der „Wahrheit“, die man vermeintlich in Interviews erfährt, macht Coetzee unmissverständlich deutlich. Jedes erinnernde Erzählen erfindet neu, und was schließlich als schriftliche Form vorliegt, ging durch die formende Hand des Interviewers. Manchmal lassen auch die Interviewten das ursprüngliche Gesagte um- und schönschreiben zu einer Erzählung, mit der es sich leben lässt. Wahrheit? Sie existiert, wenn überhaupt, im Plural, und die Form prägt sie entscheidend mit.

In diesem „Roman“ kehrt Coetzee etwas entscheidend um: Er macht sich zur Nebenfigur (er lässt sich sogar schon tot sein), und Personen, die möglicherweise (man weiß es nicht, es könnten auch Erfindungen sein) seinen Lebensweg gekreuzt haben, zu Hauptfiguren seiner Lebensgeschichte. Diese Umkehrung ist mehr als ein Perspektivenwechsel, und das Ergebnis der fünf Interviews (die gerahmt sind von angeblichen Eintragungen aus Coetzees Notizbüchern) ist mehr als die Summe unterschiedlicher Stellungnahmen zu einem Leben.

Hier versucht einer durch andere auf sich selbst zu schauen, vom Rand her zu sehen, den Rand in die Mitte zu stellen. Die anderen Geschichten werden hier erzählt, von nicht großen, nämlich nicht berühmten, aber durchaus starken Persönlichkeiten. So erfährt man über die Bürokratie-Schikanen Südafrikas gegenüber einer eingewanderten Brasilianerin, so erfährt man, wie Schwarze bei Raubüberfällen ums Leben kommen … Die Umkehrung hat aber auch zur Folge, dass Coetzees Leben umgeschrieben wird, sein Leben wird zur Konstruktion der anderen.

Politische Bedeutung

Diese Erzählform ist keine literarische oder philosophische Spielerei, sie hat auch politische Bedeutung. Durch seine Herkunft wird der Autor zwangsmäßig mit politischen Fragen konfrontiert. Coetzees „Roman“ beginnt mit Notizbüchern aus den Jahren 1972–1975. Spätestens beim Lesen der jeder Notiz angefügten Kommentare kommt der Verdacht, die Notizen könnten vielleicht nicht „echt“ sein. Da wird offensichtlich ein Dokument auf Veröffentlichung hin geschrieben. Die Notizen führen aber mitten in die blutige Wirklichkeit der 70er Jahre, nach Botswana, wo schwarze Flüchtlinge aus Südafrika erschossen wurden, zwei Männer, drei Frauen, zwei Kinder. Die Mörder waren angeblich Schwarze – doch die Nachbarn haben sie Afrikaans sprechen hören und sind überzeugt, es waren schwarz geschminkte Weiße. Man wird der Sache nicht nachgehen. Der Aufzeichnende dieser Notizen ist „also zurückgekehrt, um das zu erleben! Doch wo auf der Welt könnte man sich verstecken und sich nicht beschmutzt fühlen?“

„Wie kann man dem Schmutz entkommen – keine neue Frage. Eine alte hässliche Frage, die nicht verschwinden will, die eine böse, schwärende Wunde hinterlässt.“ Coetzee lässt diese Frage in seinem literarischen Werk nicht verstummen. In den Notizen dieses Romans lernt man mit John Coetzee einen arbeitslosen Intellektuellen kennen, der einen sonderbaren Weg geht, dem Schmutz zu begegnen: er begibt sich in ihn hinein. Er legt sein Haus selbst trocken und übernimmt so „die eigene schmutzige Arbeit“, das hätten „Leute seinesgleichen seit 1652 tun sollen“.

Gegen simple Entweder-Oder-Kategorien schrieb Coetzee mit seiner Literatur stets an. Die eigene Anwesenheit in der „Heimat“ war zwar „legal, aber unrechtmäßig“, weil sie sich auf ein Verbrechen gründete, „nämlich die koloniale Eroberung, aufrechterhalten durch die Apartheid“. So versucht Martin, der wie Coetzee später das Land verlassen hat, die Ansichten seines ehemaligen Kollegen im Gespräch mit dem Biografen wiederzugeben. Cousine Margot, der der Biograf das Gespräch vorlegt, das er fantasievoll zu einer Erzählung geformt hat, erwähnt Coetzees Liebe zum Ort seiner Kindheit, jener Farm, auf der sich der Großvater als Pferdezüchter und Schaffarmer niedergelassen hatte. Sie erinnert sich an Coetzees Satz „Dieser Ort zerreißt mir das Herz“. Die Frage „Was machen wir hier?“ blieb unausgesprochen. War er ein echter Afrikaaner? Dazu „muss man mindestens die Nationalpartei wählen und sonntags in die Kirche gehen“. Schwer vorstellbar. Die Brasilianerin Adriana wiederum sah in Coetzee den Afrikaaner, den Buren – und damit einen von jenen Weißen, die die Schwarzen wie Dreck behandeln. Eine Größe war er auch für sie nicht: sie bezeichnet ihn als entkörpert und unsinnlich. Auch Dr. Julia Frankl, die sich in jungen Jahren aus Ehelangeweile mit John eingelassen hat, hat er nicht sehr beeindruckt. Das Thema, dass sich die Frau nicht in den Mann verliebe, ziehe sich denn auch durch seine Werke, meint sie – schreibt Coetzee selbstironisch.

Gegen Schubladen

„Ich habe keinen Blitzstrahl von ihm erlebt, der plötzlich die Welt erleuchtete“, demontiert die Vorstellung von der großen Persönlichkeit eines berühmten Schriftstellers schließlich die ehemalige Kollegin und Geliebte Sophie, mit der Coetzee einst afrikanische Literatur unterrichtete. Er war einfach ein Mensch, „talentiert, vielleicht sogar begabt, aber offen gesagt kein Riese“.

Sophies Ratschläge könnten vom echten Coetzee sein: der Biograf solle sich davor hüten, die Menschen in sauber etikettierte Schubladen zu stecken. Und zu Martins Einschätzung des Coetzeeschen Utopismus könnte man auch nach der Lektüre der Bücher des echten Autors kommen: „Er sehnte den Tag herbei, an dem alle Menschen in Südafrika sich nicht mehr als etwas bezeichnen würden, weder als Afrikaner noch als Europäer, weder als Weiße noch als Schwarze oder etwas anderes ...“

Sommer des Lebens

Roman von J. M. Coetzee

S. Fischer 2010. 320 S., geb., e 20,60

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