Minutiöse Beobachtungen

Werbung
Werbung
Werbung

In banale Alltagsszenen tritt plötzlich etwas Irrationales, Ungewöhnliches, Absurdes: Alois Hotschnigs Erzählungen "Die Kinder beruhigte das nicht".

Es ist ein schmaler Band, mit dem sich Alois Hotschnig nach seinem Roman "Ludwigs Zimmer" (2000) nun zurückmeldet. Zusammengehalten werden die neun Erzählungen vor allem von der gemeinsamen Stimmung: Es liegt ein Hauch von magischem Realismus über ihnen.

"Dieselbe Stille, dasselbe Geschrei" ist der Titel der ersten Erzählung. Der Erzähler verbringt einen Sommer am See damit, zwanghaft das statische Leben seiner Nachbarn zu beobachten, mit absurden Ritualen wie regelmäßiges Schilfkämmen am Seeboden. Das Nachbar-Paar, das von nichts und niemand, am wenigsten von seinem zunehmend indiskreten Beobachter, Kenntnis nimmt, wirkt wie eine Nachstellung von "Morels Erfindung". So hieß Alfonso Bioy Casares Roman von 1940, den der Suhrkamp Verlag 2003 wieder aufgelegt hat und der bekannt wurde in der Verfilmung von Alain Resnais - "Letztes Jahr in Marienbad" -, nach einem Drehbuch von Alain Robbe-Grillet. "Morels Erfindung" war eine multisensorische Holographie, in der fortgesetzt die Geschehnisse während der einen aufgezeichneten Urlaubswoche ablaufen, die ein Beobachter gebannt verfolgt - lange ohne den Konservencharakter der Abläufe zu verstehen.

Eine Art Patina

Vielleicht wirkt diese erste Geschichte so leselenkend, dass über dem ganzen Buch eine Art Patina zu liegen scheint. Hotschnigs Geschichten erinnern mit ihrem Drall ins Surreale in vielem an die Erzählwelten der 1950er Jahre, als eine verspätete Kafka-Rezeption und die psychohygienischen Spätfolgen der NS-Katastrophe eine charakteristische Gemeinsamkeit entstehen ließen: In meist banale, mit großer Genauigkeit beschriebene Alltagsszenen tritt plötzlich etwas Irrationales, Ungewöhnliches, Absurdes. Das Surreale der einzelnen Bilder oder Ereignisfälle bleibt dabei eine ins Phantastische gesteigerte Realität, verschlüsselt und schillernd verbergen sich dahinter rational gesetzte Aussagen. Das ist auch bei Alois Hotschnig der Fall.

"Du kennst sie nicht, es sind Fremde", ist der Titel der letzten Erzählung des Bandes. Der Erzähler erwacht hier fortwährend in anderen Wohnungen und Lebenskontexten, die nur ihm fremd sind, während er selbst seinen wechselnden Umfeldern stets vertraut scheint.

Das ergibt einen parabelhaften Kommentar zur Dissoziation von Identität im Wirrwarr der Rollenspiele und zur existentiellen Entfremdung in unserer urbanen Lebensweise.

Ausgangspunkt sind bei Alois Hotschnig häufig minutiöse Beobachtungen. Sie können scheinbar ganz unspektakulär die Alltagswege und Lebensgewohnheiten der ehemaligen Freundin betreffen ("Zwei Arten zu gehen") oder eine Gruppe von Kindern, die mit dem Boot vor einer geheimnisvollen Insel zugange sind ("In meinem Zimmer brennt Licht"). Hier bricht das Irreale mit einem verstörenden Perspektiven-und Identitätswechsel ein.

Psychotherapie-Subtext

In "Eine Tür geht dann auf und fällt zu" konfrontiert eine hexenhafte alte Frau den Erzähler mit lebendigen Ich-Puppen und damit mit den verschiedenen Selbstbildern und Lebensstadien. In "Vielleicht diesmal, vielleicht jetzt" tyrannisiert Onkel Walter mit seiner geschickt inszenierten Absenz die gesamte Familie, die über die Jahre ständig sein Doch-noch-Kommen erwartet. Darin deutet sich auch eine weitere Charakteristik von Hotschnigs Texten an: So wie die Erzählung um Onkel Walter an eine Art Familienaufstellung erinnert, bildet das popularisierte Vokabular des florierenden Psychotherapeutengewerbes - sich einlassen, jemand den Platz lassen, den er braucht usw. - eine Art Subtext der Erzählungen.

Poetisch gefärbte Sprache

Alois Hotschnig - das zeigen schon die Titel seiner Geschichten - legt wert auf eine poetische Färbung der Sprache und Metaphern und liebt expressive Wortstellungen; gerade deshalb springen sprachliche Leerläufe und Schwachstellen wohl auch stärker ins Auge. Das ändert nichts daran, dass die Erzählungen mitunter einen eigenen Sog entfalten. Wo Hotschnigs Stärken liegen, zeigt vielleicht am besten die minutiöse Beobachtung eines Insektenlebens und-sterbens mit dem sarkastischen Titel "Begegnung"; hier wird sichtbar, was dieser Autor unter dem sprachlichen Mikroskop zu zeigen versteht.

Die Kinder beruhigte das nicht

Erzählungen von Alois Hotschnig

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2006

127 Seiten, geb., e 15,40

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung