MIT SINN FÜR GERECHTIGKEIT

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VLADIMIR VERTLIBS TITELHELDIN WILL IHRE WOHNUNG NICHT VERLIEREN UND KÄMPFT GEGEN MIETHAI & CO.

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Manchmal merkt man erst, was einem Dinge bedeuten, wenn sie unerreichbar werden. Die Gedichte Wislawa Szymborskas etwa, die, im obersten Bücherregal von Lucia Binar stehend, langsam Staub angelegt haben. Nach einem Unfall wochenlang gehandicapt und auf Hilfe angewiesen, kann es die eigentlich rüstige und geistig topfite 83-Jährige in Vladimir Vertlibs neuem Roman kaum erwarten, bis ihre Freundin Karla aus der Kur zurückkommt und sie nicht mehr auf sich allein gestellt ist. "Dann steigt Szymborska in Begleitung von Jan Skácels Wundklee und Joseph Brodskys Hügeln hinunter zu mir und auf einen Ehrenplatz am rechten Rand des Sofas, griffund blätterbereit, Wegbegleiter in der Not, Freunde auch in besseren Zeiten."

Die Sprache spielt eine große Rolle für die pensionierte, verwitwete Lehrerin, deren im Ausland lebende Kinder von Zeit zu Zeit unwillig über Skype mit ihrer Mutter kommunizieren. Es gibt kaum eine Situation, die ihr nicht die Zeilen eines Gedichts in Erinnerung ruft. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie die Autoren verwechselt oder den Text etwas durcheinanderbringt. Die Poesie erfüllt dennoch ihren Zweck, für jeden ein wenig anders.

Bissiger Humor

Der unpräzisen Verwendung von Sprache begegnet Lucia allerdings mit bissigem Humor. Da hat der idealistische Student Moritz einen schweren Stand, als er, engagiertes Mitglied im Verein "Straßennamen gegen Rassismus," an Lucias Haustür läutet, um sie dazu zu bringen, eine Petition zur Umbenennung der Großen Mohrengasse zu unterzeichnen. Schon jetzt ließen sich einige ihre Post in die "Große Möhrengasse" zustellen. Da wird der Ich-Erzählerin vor Lachen schwindlig, unterzeichnen will sie aber nicht. "Ich mag keine Karotten, besonders dann nicht, wenn sie Möhren heißen."

Lucias Tag wird nicht besser, als ihr Essen nicht geliefert wird und sich die Nummer des Sozialdienstes als Call-Center herausstellt, dessen Mitarbeiterin Elisabeth der alten Frau unwirsch empfiehlt, sich einstweilen von Knäckebrot und Manner-Schnitten zu ernähren. Damit lässt sich Lucia aber nicht abspeisen, sie beschließt die junge Frau zu suchen und zur Rede zu stellen.

Unterstützt wird sie dabei von Moritz, denn, Möhren hin oder her, beide haben denselben Sinn für Gerechtigkeit, auch wenn ihre Wahl der Mittel divergiert. Noch dazu verbindet sie ein gemeinsames Interesse: Der Hauseigentümer Willi Neff will die Bewohner mit unkonventionellen Mitteln aus dem Haus ekeln, etwa indem er recht unangenehme Zeitgenossen dort einquartiert oder, sich altruistisch gebend, soziale Randgruppen instrumentalisiert. Mit Flüchtlingen und Obdachlosen meint der Vermieter alteingesessene Parteien vertreiben zu können, um Luxuswohnungen für eine zahlungskräftigere Klientel zu schaffen. Doch stattdessen entsteht zwischen den ungleichen Bewohnern bald Solidarität.

Vertlib zählt zweifellos zu den interessantesten österreichischen Gegenwartsautoren. Und wie erstaunlich viele dieser interessanteren österreichischen Autoren und Autorinnen stammt er ursprünglich aus einem anderen Land und spricht Deutsch nicht als Muttersprache, was ihm 2001 den Chamisso-Literaturpreis einbrachte.

1966 in Leningrad geboren, kam Vertlib Anfang der 80er-Jahre nach mehreren Zwischenstationen, unter anderem in Israel, nach Österreich. Was Vertlibs Prosa bisher auszeichnete, etwa in seinem lesenswerten Roman "Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur" (2001), in dem ebenfalls eine ältere Frau als Protagonistin und Erzählerin fungiert, ist der Humor, der dem Tragischen ein bisschen von seinem Schrecken nimmt. Der lose mit der Haupthandlung verknüpfte zweite Handlungsstrang erzählt von eben jener so dreisten Call-Center-Mitarbeiterin Elisabeth, die sich als überlastete Alleinerzieherin entpuppt, von ihrem Freund, dem russischen Immigranten Alexander, und dessen Boss, dem zwielichtigen Illusionisten Viktor Viktorowitsch.

Tiefgang und Leichtigkeit

"Lucia Binar und die russische Seele" ist ein witziger, skurriler und durchwegs kurzweiliger Roman, dem es trotzdem nicht an Tiefgang fehlt und, das freut besonders, dessen Leichtigkeit nicht auf Kosten literarischer Komplexität geht. Vertlib kombiniert unterschiedliche Erzählsituationen und Perspektiven, verfolgt mehrere Handlungsstränge, spielt mit Stilen und Genres. Das wirkt nie künstlich und bemüht, sondern verleiht dem Text Dynamik und Vielschichtigkeit.

Antisemitismus und Rassismus, der Umgang mit alten Menschen und sozial Benachteiligten sind wichtige Themen des Romans. Die politische Korrektheit der Sprache, ein weiteres polarisierendes und emotionalisierendes Thema, das meist im moralisierenden Duktus behandelt wird, nimmt Vertlib augenzwinkernd auf die Schippe und das, ohne zu werten oder dem Thema die Bedeutung abzusprechen.

Klischees werden bemüht und stereotype Vorstellungen evoziert, um sie im nächsten Federstreich zu dekonstruieren. Identitätsstiftende Zuschreibungen wie das Geschlecht und Nationalität erweisen sich als unzulänglich und sind daher eigentlich obsolet. So ist sich Frau Binar zunächst über das Geschlecht des androgynen Moritz im Unklaren, was sie im Gegensatz zu ihren Nachbarn nicht weiter verunsichert. In Erinnerung bleibt nach der Lektüre vor allem die originelle und äußerst unterhaltsame Titelheldin.

Lucia Binar und die russische Seele

Roman von Vladimir Vertlib

Zsolnay 2015

320 S., geb., € 20,50

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