Stolpern über Neuentdeckungen

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Thema: Freiheit/Abhängigkeit

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Mir scheint, die meisten Leute lieben ihr religiöses Herkommen so, wie sie andere Menschen lieben: nicht weil sie vollkommen wären, sondern weil sie besonders sind, weise und ungeschickt zugleich, sperrig, kritisierbar, veränderlich, manchmal ganz und gar unverständlich, verbohrt, und gerade deshalb interessant. Wie Mütter, Großväter, Lehrerinnen, Freunde, Geliebte, Töchter, Enkel …

Herlinde Pissarek-Hudelist, die erste Dekanin der theologischen Fakultät Innsbruck, hat oft vom durch die Jahrhunderte stolpernden Gottesvolk gesprochen. Damit meinte sie uns, die Christinnen und Christen, und vielleicht auch die anderen. Ja, sturzgefährdet sind wir alle, auch der Dalai Lama und Ken Wilber, wankelmütig, manchmal hellwach und immer wieder müde, angewiesen darauf, dass andere uns aufhelfen, uns die Perlen zeigen, die wir in allen Traditionen entdecken können. Die nicht besonders gläubige Jüdin Hannah Arendt zum Beispiel hat mir gezeigt, wie ich die Gebürtigkeit des Christus aus der Tradition des Ersten Testaments neu verstehen kann. Von der Muslima Fatema Mernissi habe ich gelernt, dass Freiheit auch dort ist, wo unsereins sie eher nicht erwartet: im Harem. Agnes Barmettler, eine der Mütter der Labyrinthbewegung, hat mich die Weisheit der Umwege gelehrt. „Verstehen“ ist vielleicht ein zu plumpes Wort für das, was sich da zuweilen zwischen uns ereignet. Welches Wort tut der fragilen Wirklichkeit weniger Gewalt an? Begegnen? Berühren? Ahnen? Annähern?

Gerade habe ich einen Flug nach Sarajevo gebucht. Durch diese beschädigte Dazwischen-Stadt möchte ich einmal stolpern, an der Hand des Geliebten. Möge GOTT DIE LEBENDIGE uns überraschen, dort und auch hier und immer wieder neu.

* Die Autorin ist Germanistin und evangelische Theologin in der Schweiz

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