Wie sehr Kriege Familien zerrütten

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Nur selten kommt der wortkarge, ernste Großvater von den Scilly-Inseln zu Besuch nach London. Und wenn er dann da ist und neben Vater und Mutter am Tisch sitzt, muss Michael einfach hinschauen, er kann nicht anders, auch wenn es die Mutter verboten hat. Hinschauen auf die verbotenen Hände, das verbotene Gesicht. Heimliche Blicke, aus denen rasch ein Starren wird, zugleich fasziniert und entsetzt von den Spuren des Krieges, die der Großvater unauslöschlich mit sich trägt. "Er hatte dreieinhalb Finger an der einen Hand und an der anderen gar keine. Seine Oberlippe war fast vollständig verschwunden und eines der Ohren nicht viel mehr als ein Loch in seinem Kopf". Was er sieht, empfindet Michael nicht als abstoßend, sein Blick bleibt voll kindlicher Neugier, die wissen will, wie das passiert sein kann. Das Wenige, was ihm die schweigenden Eltern preisgeben -Großvater war Marinesoldat im Zweiten Weltkrieg und überlebte einen Torpedoangriff, der sein Schiff in einen riesigen Feuerball verwandelte -verfolgt den Jungen in immer wiederkehrenden Albträumen ...

Hommage an einen Kriegsversehrten

Wie viel man auf wenig Raum zu erzählen vermag, beweist der Brite Michael Morpurgo in seiner retrospektiv erzählten Hommage an einen Kriegsversehrten, der sich selbst nur noch als halber Mensch fühlt. Virtuos macht er dessen physische und psychische Verwundungen augenscheinlich und zeigt, wie sehr diese eine ganze Familie zerrütten und wie lange es dauern kann, bis so etwas wie Aussöhnung und neues Einverständnis möglich scheint. Ein Drama voll großer, meist bitterer Gefühle, das uns Gemma O'Callaghan in den begleitenden Bildern distanziert betrachten lässt. Viele der oft doppelseitigen, zuweilen in viel Blau und Orange leuchtenden Illustrationen weiten sich zu Landschaftspanoramen, in denen die handelnden Menschen nur schemenhaft als kleine Punkte auszumachen sind. Bilder, die das Exemplarische der Erzählung nochmals intensivieren und ihren Teil dazu beitragen, dass Morpurgos Text, ursprünglich in einer von ihm selbst herausgegebenen Anthologie ("War. Stories of Conflict") erschienen, auch als eigenständige Publikation besticht.

Ein Buch, das einen idealen Einstieg bietet in das Werk von Michael Morpurgo, der in England zu den Besten seiner Zunft zählt. Und das in der stimmigen Übersetzung von Uwe-Michael Gutzschhahn in der Reihe "Die Bücher mit dem blauen Band" einen angemessenen verlegerischen Ort gefunden hat. Wer Eigenwilliges und Randständiges, Lyrik und die Kunst der kleinen Formen - stets begleitet von zeitgenössischer Illustrationskunst -schätzt, wird dort noch weitere Überraschungen entdecken.

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