Wo Wasser bei 80 Grad siedet

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Gunther Martin stellt in loser Folge Personen vor, deren Namen als Begriff fast alle, deren Biographie aber nur wenige kennen. Der Mann, der Reaumur hieß - Lange konkurrierte seine Temperaturskala mit jenen von Celsius und Fahrenheit.

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Gunther Martin stellt in loser Folge Personen vor, deren Namen als Begriff fast alle, deren Biographie aber nur wenige kennen. Der Mann, der Reaumur hieß - Lange konkurrierte seine Temperaturskala mit jenen von Celsius und Fahrenheit.

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Wenn Rene-Antoine Ferchault de Reaumur wieder einmal auf ein abgeschlossenes Arbeitsjahr zurückblickt, dann kann er völlig heterogene Resultate verzeichnen. Anno 1717 zum Beispiel befaßte er sich mit Experimenten zur Bestimmung der Gewichtsverhältnisse von Flüssigkeiten und darin eingetauchten Körpern. Er untersuchte, ob die Reißfestigkeit einer Schnur größer ist als die aller Fasern, aus denen sie besteht.

Andere Forschungen galten der Anpassung von Meerestieren an die submarinen Bodenformationen. Außerdem entdeckte er einen Farbstoff der Purpurschnecken, beschrieb die Fortpflanzung von Algen und Seetang, erörterte die Bearbeitung des Schiefers und bot schließlich eine Anleitung zur Herstellung künstlicher Perlen.

Ist der aus La Rochelle gebürtige Gelehrte, der aussieht wie eine Figur der Welt Watteaus, in erster Linie Physiker, Zoologe, Botaniker oder Geologe? Über diese Frage würde er selber wohl kaum jemals nachdenken. Für ihn bilden die Naturwissenschaften wahrhaftig ein Universum. Deshalb bezieht er auch die Mineralogie und die Metallurgie in sein Pensum ein, obendrein interessiert ihn, zum Exempel, der Zustand der französischen Überlandstraßen und Wälder. Nicht zu vergessen seine offizielle Position: jahrelang fungiert er als Direktor der Königlichen Akademie der Wissenschaften.

1722 erscheint eines seiner Hauptwerke, das Traktat über Verbesserungen in der Stahlerzeugung, 568 Seiten Text! Im Kontrast dazu steht seine Vorliebe für ein Material von höchster, zerbrechlichster Feinheit: das Porzellan.

Es liegt in der allgemeinen Entwicklung während seiner Epoche, daß sich Reaumur auch der Temperaturmessung und ihrer Systematik zuwendet. Seit 1714 gibt es die Skala des Danziger Physikers Gabriel Fahrenheit, in 180 Grade eingeteilt, mit dem Schmelzpunkt des Eises bei 32 Grad. Der Franzose indes geht a priori vom Element Wasser in seinen drei Aggregatzuständen aus. Den Gefrierpunkt markiert er mit Null, den Siedepunkt mit 80 Grad. Diese "Reaumur-Skala" wird 1730 eingeführt.

Von der Astronomie her kommt der Schwede Anders Celsius zu dem selben Thema. 1742 schlägt er eine thermometrische Skala vor, die sich von jener Reaumurs dadurch unterscheidet, daß der Abstand zwischen Gefrierpunkt und Siedepunkt in 100 Grade geteilt ist - und zwar ursprünglich in umgekehrter Reihenfolge. Celsius setzt den Nullpunkt als Obergrenze an und verfährt dann nach der Methode des Countdown. Gemäß seiner Version wird Wasser also bei 100 Grad zu Eis. Der Astronom selbst hält daran fest, erst seine Nachfolger vollziehen das simple Wendemanöver.

Mit dem Reaumur-Thermometer werden in unterschiedlichen Klimazonen vergleichende Messungen durchgeführt: in Paris und anderen Städten Frankreichs, in Ländern Mittel- und Südeuropas und schließlich auch in Übersee, von Afrika bis zu "unseren Inseln in Amerika". Indessen wird der Multi-Forscher in die naturwissenschaftlichen Akademien von Bologna, Berlin, London, Stockholm und St. Petersburg aufgenommen, außerdem arbeitet er an einem neuen Opus Magnum, einer mehrbändigen "Histoire des Insectes". Da bleibt keine Zeit für Reisen.

Prinzip Beobachtung Sein Credo lautet: beobachten, beobachten und nochmals beobachten. "Dadurch erkennt man die Zusammenhänge zwischen Dingen, die verschiedenartig erscheinen oder man entdeckt die Unterschiede die dort gegeben sind, wo Dinge vermeintlich übereinstimmen." Der Wissenschaftler möge "seine Aufmerksamkeit auch allen Begleitumständen eines Vorgangs widmen".

Schlaganfälle hemmen die Tatkraft des bis dahin Unermüdlichen. Er ist Vierundsiebzig, als er am 18. Oktober 1757 in dem kleinen Ort La Bermondiere den letzten, tödlichen erleidet. Statt eines Lorbeerkranzes legen die Botaniker auf sein Grab Zweige einer Tamariskengattung, die sie ihm zu Ehren "Reaumuria" benannt haben.

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