Cristina Musa erinnert sich noch gut an die gespenstische Stimmung in der chilenischen Hafenstadt Viña de Mar, wo am Abend des 10. September 1973 Soldaten durch die Straßen patrouillierten und Telefonleitungen plötzlich tot waren: "Für uns hat der Putsch schon am Vorabend begonnen“. Am 11. September übernahmen die Militärs die Macht. Der sozialistische Präsident Allende wurde zum Selbstmord gedrängt, tausende Vertreter und Anhänger der gestürzten Regierung verhaftet und ermordet.
Flucht nach Österreich
Cristina Musa war damals schwanger mit ihrer zweiten Tochter Maya. Dem Ehepaar gelang die Flucht. Zunächst nach Kuba, wo Maya noch am Tag der Ankunft zur Welt kam. Nach mehreren Jahren in Havanna versuchte es die Familie nochmals in Chile. Cristina wurde aber in ein missglücktes Bombenattentat verwickelt und landete - schwer verletzt - im Gefängnis. Erst der Druck von Amnesty International und verschiedenen westlichen Regierungen ermöglichte ihnen die Ausreise. "Die erste Regierung, die mir Asyl anbot, war die österreichische“, sagt Musa. Ihre erste Anschrift in Wien: Die Zinnergasse in Wien Simmering, eine ehemalige k.k. Artilleriekaserne am Rande der Stadt, an der der Autobus lange Jahre vorbeifuhr, ohne Halt zu machen. Hier wurden hunderte Chilenen untergebracht.
Nach dem Krieg hatte die Kaserne noch den sowjetischen Besatzungstruppen als Quartier gedient. Ein Jahr nach deren Abzug fanden dort rebellische Ungarn, die von der Sowjetmacht verfolgt wurden, einen ersten Unterschlupf. Später kamen vietnamesische Boat People und schließlich Flüchtlinge aus den lateinamerikanischen Diktaturen. Die Chilenen verstanden es schnell, die graue Umgebung zwischen Tangente und Zentralfriedhof mit Leben zu füllen.
Sie veranstalteten Feste, machten Musik und tauften ihre Bleibe auf den Namen Macondo: nach dem fiktiven Schauplatz des magisch-dramatischen Romans "Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez. Das real existierende Macondo liegt also in Simmering, und es war und ist voller Gegensätze, Widersprüche und voll blühenden Lebens.
Integration auf Österreichisch
In Macondo landete auch Nelson Morales, als er 1978 mit seinen Eltern von Österreich aufgenommen wurde. Auch sie hatten die blutigsten Jahre des Pinochet-Regimes überlebt. Als Funktionär der Allende-Regierung, der die Verstaatlichung der Erdölindustrie einleiten sollte, war Nelsons Vater gebrandmarkt.
Als Nelson in Wien in die Schule kam, erklärte der Lehrer den Mitschülern, warum so viele Chilenen ihre Heimat verlassen mussten und trug ihnen auf, dem Neuankömmling beim Spracherwerb zu helfen. Ihren Erfolg würde er an Nelsons Fortkommen messen. "Rassismus habe ich nie erfahren“, sagt der Musiker.
Weg aus dem Ghetto
Mit dem Herzen ist er noch immer in Chile. Deswegen fungiert er als Sprecher der Bewegung "Todos a la Moneda“. Die Moneda, das ehemalige Münzamt, ist der Sitz des Präsidenten. Und das Bündnis linker und grüner Parteien setzte sich für die Wahl des populären, aber chancenlosen Marcel Claude bei den Präsidentschaftswahlen vom 17. November ein.
Nelsons Familie beschloss nach ein paar Jahren, aus Wien wegzuziehen. "Wir wollten uns integrieren und da mussten wir von diesem schönen aber - ja, doch - Ghetto Macondo weg“.
Sie fanden eine Wohnung im 6. Bezirk, wo in den frühen 1980er-Jahren eine sehr aktive Latino-Szene entstand. Mit seiner Frau Petra versuchte er dann die Rückkehr nach Chile. 1989 konnte man wieder frei arbeiten, und Nelson tingelte mit einer Band durch das Land. Als seine Frau schwanger wurde, entschlossen sie sich aber zur Rückkehr in den österreichischen Sozialstaat. "Wir konnten in Chile überleben. Aber krank werden darf man dort nicht. Alles ist privat und teuer“. Diese Erkenntnis hat mehr als einen Rückkehrer wieder nach Österreich zurückgebracht.
Cristina Musa, die als Buchhalterin in einer Schule gearbeitet hat, ist seit einigen Monaten in Pension. Sie wird nicht mehr von Macondo wegziehen. Auf dem Kasernengelände wurden im Laufe der Zeit Bungalows errichtet. Die Siedlung ist gewachsen und bunter geworden.
Somalier, Äthiopier, Tschetschenen teilen sich heute den Platz mit Vietnamesen, einigen Ungarn, die geblieben sind und einem Grüppchen von Chilenen. Neuankömmlinge haben aber nur begrenztes Bleiberecht. Und gleich gegenüber liegt jetzt ein Abschiebezentrum für Familien, das daran erinnert, wie sehr sich die Asylpolitik Österreichs verändert hat.