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DER LETZTE VON KATYN

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Katyn ist heute für die Welt ein Begriff. Zehntausend polnische Offiziere fanden dort 1941 ein Massengrab. Ein 60jähriger israelischer Rabbi hat nun einen Schweigeeid gebrochen und der Welt die Wahrheit über den geheimnisumwitterten Mord von Katyn berichtet.

Rabbi Halsberg, heute Chefinspektor für Religionsfragen beim israelischen Jugendeinwanderungsamt, ist der einzige Ueberlebende von Katyn. Er klagt dje Sowjets des zehntausendfachen Mordes an kriegsgefangenen polnischen Offizieren an und hat sich bereit erklärt, als Zeuge jederzeit den Wahrheitsbeweis für seine Anklage anzutreten. Halsberg wurde mit 17 Jahren Soldat. Er wurde an der russischen Front gefangengenommen, aber im Durcheinander der Revolution von 1917 gelang es ihm, dem Lager in der Nähe von Murmansk zu entkommen. Die sowjetischen Streitkräfte, die am 17. September 1939 von Osten her in Polen eindrangen, machten Halsberg ein zweites Mal zum Kriegsgefangenen. Im Vernehmungslager Witebsk, wo die Sowjets alle polnischen Gefangenen verhörten, stritt Halsberg zwar ab, jemals Legionär unter Pilsudski gewesen zu sein, aber da sein Name auf einer schwarzen Liste der polnischen KP stand, wurde er trotzdem als „unverbesserlicher Antikommunist“ nach Katyn geschickt.

Eines Tages stellte Rabbi Halsberg fest, daß einer der Wachtposten, ein Mann in mittleren Jahren, derselbe Russe war, der ihn schon 1916 in Murmansk bewacht und mit dem er sich damals recht gut verstanden hatte. Auch der Posten erkannte Halsberg wieder, und er ließ von nun an keinen Abend vergehen, an dem er „seinem“ Kriegsgefangenen nicht Lebensmittel, Zigaretten oder Seife zugesteckt hätte. Im Frühjahr 1941 zog er Rabbi Halsberg beiseite und flüsterte ihm zu: „Es ist keine Zeit mehr zu verlieren, wenn du weiterleben willst, fliehe so schnell wie möglich! Ich werde dir helfen...“

Schon zwei Tage später griff ihn in der Nähe von Smolensk eine sowjetische Militärstreife auf. Er wurde zu 15 Jahren Zwangsarbeit in

Nordrußland verurteilt.

Während Halsberg auf seinen Abtransport von Smolensk wartete, wurde er Zeuge eines Gesprächs zwischen zwei Sowjetsoldaten unter seinem Zellenfenster: „Wir haben ab heute sechs Tage Sonderdienst“, fluchte der eine von ihnen. „Gestern sind alle verfügbaren Leute nach Katyn gefahren, um die Polen zu liquidieren, und unser Zug muß für die anderen fünf alle Wachen übernehmen, bis die von Katyn zurückkommen...“

Der Befehl, die Gefangenen von Katyn zu „liquidieren“, muß eine Woche zuvor herausgegeben worden sein, damit die Lagerwachen alle Vorbereitungen und Vorsichtsmaßregeln für das blutigste Massaker der Geschichte treffen konnten.

Bei Kriegsende wurde Rabbi Halsberg aus dem Arbeitslager freigelassen und in seine Heimat zurückgeschafft. Er landete schließlich in Israel. Er hielt das Wort, das er seinem russischen Freund gab: Niemals etwas über Katyn zu berichten, bevor er 60 Jahre alt würde — wenn er einmal so alt würde.

17 Jahre nach dem Massenmord von Katyn hat Rabbi Halsberg nun seinen 60. Geburtstag begangen.

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