Rechte haben ohne immer Recht zu haben

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Vor 75 wurde Janusz Korczak von den Nazis ermordet. Über den "Vater der Kinderrechte", der im Zentrum der diesjährigen Pädagogischen Werktagung Salzburg steht.

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Vor 75 wurde Janusz Korczak von den Nazis ermordet. Über den "Vater der Kinderrechte", der im Zentrum der diesjährigen Pädagogischen Werktagung Salzburg steht.

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Es war 1989, im Jahr des Mauerfalls, als die UN-Generalversammlung nach langer Vorarbeit die Kinderrechtskonvention verabschiedete. Drei Jahre später wurde das Regelwerk, das in seinen 54 Artikeln erstmals politische Bürgerrechte und kulturelle, wirtschaftliche sowie soziale Kinderrechte in einem völkerrechtlich bindenden Vertrag verknüpfte, von Deutschland und Österreich ratifiziert. Bis heute haben fast alle Staaten der Welt (außer den USA!) dasselbe getan.

Dennoch existieren diese Kinderrechte weltweit - und leider auch bei uns - oft nur auf dem Papier (siehe oben): So wird etwa in Deutschland alle zehn Minuten ein Kind krankenhausreif geschlagen, 200 Kinder sterben pro Jahr an den Folgen elterlicher Prügel, 450.000 Kinder werden jährlich misshandelt und 300.000 Kinder sexuell missbraucht. Die Zahl der Selbstmordversuche von Kindern und Jugendlichen steigt ebenso wie jene psychosomatischer Leiden. Und man kann davon ausgehen, dass die Lage in Österreich ähnlich ist.

Einer, der sich schon vor beinahe hundert Jahren für Kinder und deren Rechte eingesetzt hat, war der in Polen lebende jüdische Kinderarzt, Schriftsteller, Radiodoktor, Sozialpädagoge und Waisenhausleiter Henryk Goldszmit, besser bekannt unter seinem Pseudonym Janusz Korczak (1878-1942). Sein Verdienst war es, ohne Vorbedingung die "Kinder und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt" zu stellen: Er hat der Nachwelt zwar keine systematischen Theorien hinterlassen, aber sein Handeln war bestimmt von einer wertschätzenden humanistischen Haltung, einer bedingungslosen Achtung vor dem Kind, welche die Pädagogik wesentlich prägen sollte.

Nicht nur Schutz, sondern Teilhabe

Ausgebildet als Kinderarzt wurde Korczak immer mehr vom physischen und psychischen Leid und Elend der Kinder in Warschau angezogen. Allen voran wollte er den Waisenkindern ein menschenwürdiges Dasein und eine Perspektive ermöglichen. Schließlich stellte er sich ganz in den Dienst der Kinder und gründete das Waisenhaus Nasz Dom (Unser Haus). Es waren keine pädagogisch restriktiven Regeln, denen sich die Kinder hier zu unterwerfen hatten, sondern schon früh begann Korczak, seinen Kindern ein Bewusstsein zu vermitteln, sich selbst mit Rechten und Pflichten auszustatten. Für damalige Verhältnisse wurden ihnen umfassende Partizipationsrechte in der Selbstverwaltung zuteil. So realisierte Korczak etwa schon damals ein regelmäßig tagendes Kinderparlament -und damit die Möglichkeit für den Einzelnen, sich mit demokratischen Prozessen vertraut zu machen und sich in einem gesellschaftsähnlichen Gefüge einzubringen. Ebenso kannten die Waisenhäuser ein "Kameradschaftsgericht", bei dem Kinder, die jeweils auf bestimmte Zeit zu Richtern bestellt wurden, auf die Gesetzesverletzungen ihrer Kommilitonen "juristisch" abgesichert reagierten - unter Zuhilfenahme jener Gesetze, die im Parlament verabschiedet worden waren. Selbst das Personal und Korczak selbst mussten sich bei Verfehlungen vor diesem Kindergericht verantworten -vor dem Gesetz sind eben alle gleich. Korczak nahm dadurch die Kinder nicht nur in Schutz vor den Erwachsenen, sondern er ließ sie teilhaben und mutete ihnen durch das Wechselspiel aus Recht und Pflicht ein dem Alter zumutbares Maß an Mit-Verantwortung zu.

Um diese Verantwortung und auch die Selbstbestimmung zu fördern, gab es in den Waisenhäusern ein öffentlich zugängliches Regal (mit Büchern und Lexika), einen Briefkasten (für die interne Post), eine Kinderzeitung, ein Anschlagbrett und ein Fundbüro, eine versperrbare Lade für die eigenen Habseligkeiten (für jedes Kind) zum Schutz seiner Geheimnisse und vieles mehr an nützlichen und auch symbolträchtigen Sujets. Korczak war damit seiner Zeit weit voraus: Er realisierte im Kleinen das Recht auf Bildung, auf freie Meinungsäußerung, auf Pressefreiheit, auf Informationsaustausch, auf Privatbesitz etc.: In der heilen Welt des Waisenhauses waren all diese UN-Grundrechte bereits 50 Jahre vor der UN-Konvention gelebte Praxis. Selbst als das Haus ins jüdische Ghetto von Warschau übersiedeln musste, realisierten Korczak und sein Team weiterhin diese Simulation von Rechtsstaatlichkeit. Er hielt daran fest bis zur Deportation nach Treblinka. Gemeinsam mit den 200 Kindern seines Waisenhauses wurde er in den Gaskammern des Vernichtungslagers umgebracht - nicht aber sein Vermächtnis für die Pädagogik.

Das Recht auf den heutigen Tag

In seinen beiden Hauptwerken "Wie man ein Kind lieben soll" (1920) und "Das Recht des Kindes auf Achtung" (1929) wird der radikale Anspruch, den Korczak erhebt, besonders deutlich: Korczak räumt dem Kind darin ein Recht auf den heutigen Tag ein, also ein Anrecht auf das Hier und Jetzt, was die Kindheit als eine eigene, wertvolle Lebensphase aufwertet. Zudem fordert er ein, dem Kind das Recht zuzugestehen, so zu sein, wie es ist bzw. das zu sein, was es ist, nämlich ein Kind. Dieses klare Bekenntnis zur Einzigartigkeit und Eigentümlichkeit des Menschen und sein Bekenntnis zur Individualität war in der Zwischenkriegszeit des zwanzigsten Jahrhundert geradezu ein Gegenmodell zu den aufkeimenden Jugendorganisationen, die Europas Jugend mit Drill zum nationalen Gleichschritt drängten. Mit seiner provokativsten Forderung, dem Recht des Kindes auf seinen eigenen Tod, wurde Janusz Korczak oft missverstanden: Er forderte damit ein höheres Maß an Zutrauen in die kindlichen Fähigkeiten und die bewusste Distanzierung von der eigenen (oft unbegründeten) Sorge um das Kind, denn die Angst vor dem Tod (bzw. andere potenzielle Gefahren für das Kind) verhindere es geradezu, dass das Kind unbeschwert sein Leben leben und genießen könne. Korczak formulierte mit einer starken Metapher sein Plädoyer gegen die Überbehütung und damit ein Recht des Kindes auf eine angemessene erfahrungsorientierte Entwicklung. Hundert Jahre danach ist seine Idee als "Bekenntnis zu einer Fehlerkultur" besser verdaulich in der Praxis angekommen.

Janusz Korczak war letztlich auch einer der glaubwürdigsten Vertreter der pädagogischen Zunft. Die Schergen des Nationalsozialismus hätten ihn als populäre Persönlichkeit verschont. Er jedoch lehnte das Angebot auf Emigration ab und ging gemeinsam mit seinen 200 Waisenkindern und dem Personal in den Tod. Er sah es wohl als Selbstverständlichkeit an, dass Kinder, wenn man sie schon nicht vor allem bewahren kann, zumindest ein Recht auf bedingungslosen Beistand im Sterben hätten.

| Der Autor ist Erziehungswissenschafter an der Universität Salzburg. Der Text ist die modifizierte Fassung seines Vortrags über Janusz Korczak. |

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