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Berge beschriebenen Papiers

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In der Welt der Erwachsenen, angelangt, darf man nicht seinen Träumen nachhängen. Nach langem Schwanken studiert Henryk Medizin und wird Facharzt — für die Kinder. Als er aber einmal zufällig in die trostlose Verkommenheit des jüdischen Waisenhauses in Warschau hineinsieht, ist es aus mit dem bürgerlichen Beruf. Von nun an lebt er nur noch den jüdischen und später auch polnischen Kindern. Was er nun weitoffenen Herzens entdeckt in der Seele des Kindes, was er an Vermenschhchung und Vervollkommnung ersinnt im Umgang mit'ihr, reiht ihn würdig neben Pestalozzi. Das „Jahrhundert des Kindes“ hat nach ihm keinen solchen Höhepunkt mehr erreicht. Zugleich aber handelt die unermüdliche Feder. Wiegedaten, Krankheitsgeschichten, Kinderzeitungen — diese überwiegend von Kindern geschrieben — sind das selbstauferlegte mit minuziöser Genauigkeit täglich ausgeführte Muß. Daneben wachsen zwar nicht mehr Gedichte; doch Romane, Dramen, Märchen und pädagogische Schriften machen Henryk Goldszmit nunmehr als „Janusz Korczak“ berühmt. So entstehen Berge beschriebenen Papiers — Zeugen einer unfaßbar lebendigen Beziehung zum geschriebenen WoTt und damit zum Geist, die ein gütiges Geschick der irdischen Vernichtung entrissen hat.

Dichter, Arzt und vor allem Vater; ein Vater im Waisenhaus, Tag und Nacht zweihundert selten ganz gesunden Kindern nahe — das wurde aus den Träumen der Kindheit. Eines blieb: der polnische Jude.

Der Fünfjährige will das Grab seines Kanarienvogels mit einem Kreuz schmücken. Es wird nicht erlaubt. Der Hausmeisterssohn meint, der Vogel sei Jude gewesen... „Und ich bin auch einer. .. und er ist Pole und Katholik, und ich, wenn ich keine häßlichen Ausdrücke sage und ihm die zu Hause geklauten Bonbons brav abliefere, komme nach dem Tode zwar nicht in die Hölle, aber in Räume, die dunkel sind. Und ich habe mich in dunklen Zimmern immer gefürchtet. Tod, Jude, Hölle, das schwarze jüdische Paradies. Es war genug zum Grübeln.“

Immer weiter weichn<die Tage der großen Assimilationswelk der nachrevolutionären Zeit. zurück. Soll man Christ werden, wenn das Herz es nicht verlangt und der Großvater in besseren Tagen davor zurückschreckte? Und man flüchtet nicht ungestraft in eine neue Umwelt: man hat sich dann von seinen Vorfahren losgesagt und kann sich nicht mehr auf ihre Taten berufen. Man hat sich arm gemacht und muß das verdecken und durch Aggression übertönen ...

Nach dem ersten Weltkrieg werden Judenkinder von den Gehsteigen gestoßen; Korczak leidet unermeßlich, er weiß, daß das nicht von den Kindern kommt, die er alle liebt. Als seine Waisen wild baden, sagt er der besorgten Erzieherin mit grenzenlos traurigem Lächeln: „Ist Ertrinken nicht das beste, was einer jüdischen Waise passieren kann?“ — Wirtschaftliche Depression und Rechtsradikalismus steigern den Judenhaß lange vor Hitler auf Siedehitze. Als aber die Bomben und die deutschen Soldaten über Warschau kommen, zieht er bewußt die alte Militärarztuniform an, um mit dem geliebten Vaterland zu leiden. Und dann werden eines Tages die Juden zusammengepfercht ins Getto. Der „alte Doktor“ aber spannt, ohne es zu wissen, seine Seele schon frühzeitig hinüber hinter das dunkle Tor: „Die Menschen betrachten und fühlen den Tod nur unter dem Gesichtswinkel des Endes, dabei ist er nur die Fortsetzung des Lebens, ein anderes Leben.“ Seinen Eltern dankt er, daß sie ihn gelehrt haben, „das Geflüster der Lebenden und Toten zu verstehen. Ich danke euch, daß ich in der schönen Stunde des Todes das Geheimnis des Lebens erkennen werde.“

In den Tagen unablässigen Hungers, Jammers und hilflosester Verlassenheit sind die beiden Kirchen im Warschauer Getto genau so überfüllt wie die Synagogen. In den Kellern wird während der Selektionen hebräisch und nach allen christlichen Riten gebetet. Korczak greift zu Talmud und katholischem Meßbuch. Um ihn, in ihm vollzieht sich, worum Jesus gebetet hatte: Alle werden eins.

Letztes Ostern. Bei der Abendmahlzeit spricht der „alte Doktor“ inmitten seiner zwölf ältesten Waisen die hebräischen Gebete und dann: „Vater unser, dies Gebet ist aus Hunger und Elend gebildet“, und er hebt seine Arme voll stummer Verzweiflung gegen den tauben Himmel.

„Ich wünsche niemand etwas Schlechtes. Ich kann es nicht, ich weiß nicht, wie man das macht.“

An jenem Augusttag 1942 weist der „alte Doktor“ es schroff zurück, sich allein retten zu lassen. In verschlissener Uniform dahinwankend, die Jüngsten an den Händen, geht er an der Spitze der Waisenhauskinder das letztemal durch das Warschauer Getto, dem Gastod in Treblinka entgegen. Sah er den Sinn in dieser Zeit? Wie sind wir an Theilhard de Chardin erinnert, wenn wir Korczaks Wort lesen: „Unsere Erde ist noch jung und der Anfang ist eine qualvolle Anstrengung!“ Lange vor dem Ende aber hatte er in sein Tagebuch geschrieben: „Nach dem Kriege werden sich die Menschen lange Zeit nicht in die Augen sehen, um nicht die Frage zu lesen: Wie kommt es, daß du lebst, daß du durchgekommen bist? Was hast du getan?“ Und diese Frage ist auch an uns gerichtet...

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