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Der polnische Pestalozzi

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Am 1. Oktober wurde anläßlich der Frankfurter Buchmesse der diesjährige Friedenspreis des Börsenvereines des Deutschen Buchhandels postum an den polnisch-jüdischen Pädagogen und Kinderarzt Janusz Korczak verliehen. In einer Zeit, in der die Bemühungen um den Frieden immer stärker nicht nur als politisches Problem, sondern als menschheitlich-erzieherischer Auftrag erkannt werden — so heißt es in der Begründung der Zuerkennung des Preises —, soll damit der Gedanke unterstrichen werden, „daß die Pflicht zum Frieden schon beim Kind anzulegen sei“.

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Am 1. Oktober wurde anläßlich der Frankfurter Buchmesse der diesjährige Friedenspreis des Börsenvereines des Deutschen Buchhandels postum an den polnisch-jüdischen Pädagogen und Kinderarzt Janusz Korczak verliehen. In einer Zeit, in der die Bemühungen um den Frieden immer stärker nicht nur als politisches Problem, sondern als menschheitlich-erzieherischer Auftrag erkannt werden — so heißt es in der Begründung der Zuerkennung des Preises —, soll damit der Gedanke unterstrichen werden, „daß die Pflicht zum Frieden schon beim Kind anzulegen sei“.

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Wer war Janucz Korczak, dessen Name zwar anläßlich der 25jährigen Wiederkehr seines Todes im Jahre 1967 auch im Westen bekanntgeworden, der aber hier, zum Unterschied zu seiner Heimat Polen und anderen osteuropäischen Staaten, doch bis heute weitgehend unbekannt geblieben ist? Hier muß auch für Österreich manches nachgeholt werden und dies um so mehr, als leicht in jener Ehrung durch den Friedenspreis eine politische Motivation gesehen werden könnte.

Korczak, der ursprünglich Henryk Goldszmit hieß und sein Pseudonym

Waisenhaus für jüdische Kinder; 1919 folgte die Einrichtung einer zweiten solchen Institution für polnische Kinder. Dazwischen liegen Jahre des Kriegsdienstes als Militärarzt in Rußland.

Als Kinderarzt hat er mit einer gewissen Hartnäckigkeit durch Messungen und durch Registrierung der körperlichen Entwicklung seiner Schützlinge sorgfältige entwicklungspsychologische, somatische Untersuchungen betrieben, die er gleichermaßen grundlegend für die Praxis seiner Heimerziehung wie für seine Lehrtätigkeit als Dozent am Institut als Schriftsteller schließlich als Familiennamen annahm, entstammte — 1878 geboren — einer längst assimilierten jüdischen Warschauer Bürgersfamilie. Er wurde, nach Studien in seiner Heimatstadt, in Berlin — an dieses Jahr erinnerte er sich gerne — und in Paris, Facharzt für Kinderheilkunde an einem Krankenhaus Warschaus. In dieser Eigenschaft kam er mit der sozialen Not des Proletariats und im besonderen mit der Not der Kinder der unteren Volksschichten in Berührung.

Korczak schrieb später eihmal in einem Brief, in dem er sich an den Augenblick erinnert, in dem er beschloß, keine eigene Familie zu gründen: „An Sohnes statt nahm ich die Idee, dem Kinde zu dienen.“ Und er fügte dem hinzu, um gewissermaßen vorwegzunehmen: „Ich habe nur scheinbar dabei verloren.“ In den frühen Notizen des Gymnasiasten aber, die er später in seinem „Tagebuch“ literarisch verwertete, findet sich bereits der “Satz: „Die Welt reformieren heißt: die Erziehung reformieren.“

Schon der Entschluß, Medizin zu studieren, war dem Willen zum Dienste der Menschheit entsprungen. Bald aber verschrieb sich Korczak, als Arzt viel aufgesucht, wie auch als Schriftsteller in seiner Heimat bekannt, der sozialen Arbeit, der tätigen Sozialreform, der Hilfe für die Armen und Erniedrigten, im besonderen der Hilfe für die vom Schicksal benachteiligten elternlosen Kinder. Im Jahre 1911 gründete er sein erstes

Photo: Börsenverein für Sonderpädagogik und im Rahmen von Volkshochschulen verwertete.

Korczaks literarisches Schaffen, vielbeachtet schon in seinen jüngeren Jahren, beeinflußt von Anton Tschechow und anderen vornehmlich slawischen Dichtern seiner Epoche, ist gekennzeichnet durch einen sozialen Realismus, den bei aller tiefgehenden Analytik ein satirischer Humor mildert.

Seine literarische Ttätigkeit verschaffte ihm in Kreisen der Warschauer Gesellschaft hohe moralische Autorität. Seine Werke fanden auch den Weg auf die Bühne, wie das grotesk-metaphorische, symbolistische Stück „Der Senat der Tollköpfe“. Eine Reihe von naturalistischen Romanen und Erzählungen und psychologischen Skizzen (so „Das Salonkind“, mit vielen persönlichen Erinnerungen; oder die sozialkritische Erzählung „Die Kinder der Straße“) fällt in die frühere Zeit seines literarischen Schaffens. Korczak schrieb originelle Kinder- und Jugendbücher, in denen er auch staatliche und gesellschaftliche Probleme behandelt, besonders in dem Roman „König Hänschen“. Bei aller Einfachheit und Schlichtheit der Darstellung erweist sich Korczak als meisterhafter Psychologe für Kinder und Jugendliche.

Unmittelbar wendet sich Korczak an Eltern und Erzieher in den humorvollen „Aufzeichnungen eines Säuglings“, „Klagen eines Kleinkindes über falsche Behandlung“, oder, ganz allgemein, in den „Lebensregeln. Pädagogik für die Jugend und die Erwachsenen“. Immer wieder erweist er sich als scharfsinniger Beobachter, immer wieder dringt aber auch jener „große Humor“ durch, dessen der Erzieher als einer „seelischen Grundlage“ bedarf.

Die pädagogischen Arbeiten tragen essayhaften Charakter. Das zweibändige Hauptwerk ist betitelt: „Wie man ein Kind lieben soll“ (1920/21). Der 2. Band: „Das Internat“, erschien bereits im Jahr darauf in einer russischen Ausgabe, versehen mit einem empfehlenden Vorwort von niemand geringerem als Nadeschda Krupskaja. Unter den weiteren hier einschlägigen Schriften sind hervorzuheben: „Das Recht des Kindes auf Achtung“, die programmatische Schrift einer „Magna Charta libertatis des Kindes“, „Lebensregeln, Ratschläge für Jugendliche und Erwachsene“ und die schon erwähnte „Scherzhafte Pädagogik“. Damit sind nur die Titel der inhaltsreichsten und aussagekräftigsten von ungefähr zwanzig aus der Feder Korczaks stammenden Darlegungen über Erziehung genannt.

Der Grundgedanke ist dabei immer der gleiche, der auch in einem Buchtitel zum Ausdruck kommt: „Das Recht des Kindes auf Achtung“. Dabei wird keineswegs, wie an anderen Orten gängig und „modern“, einer revolutionären Freiheitspädagogik „vom Kinde aus“ gehuldigt, bei aller Hochachtung und Ehrfurcht vor dem Kinde — „Das Kind ist vor allem ein Mensch, dem sich der Erzieher mit Achtung und Vertrauen zu nähern hat“, wird an einer Stelle der Schriften postuliert. Korczaks Apologetik des Kindes ist nicht die übersteigerte Apotheose einer Ellen Key oder eines Ludwig Gurlitt, sondern behält das weise Maß der Mitte.

Eine seiner Mitdirektorinnen der Waisenhäuser, Maryna Falska, drückte dies so aus: „Wir wollen das Kind nicht kneten und ummodeln, sondern wir wollen es verstehen, uns mit ihm verständigen. Wir wollen den Kindern helfen bei der Erneuerung ihrer versklavten und bettlerhaft gewordenen Seele, beim Abstreifen des Schmutzes, der die von den Erwachsenen angesteckte Kindergemeinschaft durchsetzt und beherrscht. Ihr eigenes Leben soll sich ausbilden, die Kräfte sollen erprobt, die moralische Stärke und die Entwicklungstendenz gefördert werden“. Das erinnert eher an Maria Montessori.

Korczak wird von seinen heute noch lebenden Mitarbeitern und Zöglingen als hochherzig und selbstlos, energisch und phantasievoll, als sehr intuitiv beschrieben. Von einer „unverbrauchten Frische des Gemüts“ wird gesprochen. Mit ihr verband sich eine starke Sensibilität, die Korczak für Depressionen anfällig machte. Opferte er sich einerseits in Hingabe für die ihm Anvertrauten auf, so suchte er anderseits auch wieder die Einsamkeit — auch hier eine Pestalozzi-Natur. Zweifellos hat sein Wesen auch Schattenseiten. In vielen bitteren Reflexionen offenbart sich in seinen Novellen und Romanen ein selbstquälerischer Zug. Kein einfaches Bild bietet sich dem Betrachter: Schöpferische, mitunter eigensinnige Aktivität auf der einen Seite, Empfänglichkeit des Gefühlslebens, rousseausche Tagträume auf der anderen Seite, ja gelegentlich Mystik die ihn, den scheinbar a-religiösen Menschen, „Unter vier Augen mit Gott“ das Gespräch über die letzten Fragen suchen und in seinen Waisenhäusern eine, wenn auch nicht dogmatische, religiöse Erziehung anstreben ließ.

Korczak hat kein geschlossenes pädagogisches System entworfen, das Anspruch auf eine Totalität erzieherischen Denkens und Handelns erheben könnte. Er war auch kein Schulreformer, sondern organisierte die Fürsorgeerziehung. Doch vereint ihn mit Zeitgenossen der damaligen neu-europäischen Erziehungsbewegung wie Ovide Decroly in Belgien, Adophe Fernere in der Schweiz, mit den deutschen und österreichischen Roformpädagogen der zwanziger Jahre die Kritik am überkommenen Erziehungsstil und das Engagement für das Eigenrecht des Kindes, ohne daß er dabei in Extreme verfallen wäre. Korczak war wohl bei allem Intellekt zu intuitiv, um ein großes rationelles System der Erziehung aufstellen zu können, und war auch hierin verwandt mit Pestalozzi.

Aber Elemente eines Systems hat Korczak hinterlassen. Er hat sich für Schülerselbstverwaltung und für Gemeinschaftserziehung eingesetzt. Er hat die Sozialpädagogik modern und weit über reine Fürsorgeaspekte hinausgehend verstanden. Der Vergleich mit Anton Makarenko, den heute als Klassiker der Sowjetpädagogik bezeichneten ukrainischen Lehrer, drängt sich auf, der gleich Korczak in Jugendkolonien arbeitete und auf

Erfahrung und Experiment seine pädagogische Konzeption aufbaute.

Korczak-Gesellschaften gibt es in Moskau und in Polen. Polen vor allem feiert ihn als den Schöpfer eines modernen Betreuungssystems. Auch in Israel — Korczak besuchte zweimal Palästina, doch konnte er sich nicht zum Bleiben entschließen — wird sein Name geehrt.

Korczak ist in den ersten Augusttagen 1942 — ein genaues Datum läßt sich nicht feststellen — zusammen mit den Kindern seines Waisenhauses, das zuletzt im Ghetto Warschaus untergebracht war, im Konzentrationslager Treblinka ums Leben gekommen. Versuche, ihn zu retten, wies er zurück. Er wollte die ihm anvertrauten Kinder nicht verlassen.

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