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Schon am Flickwerk der Plattenbausiedlung "Hristo Smirnenski“ in Bulgariens Hauptstadt Sofia kann man ablesen, wer von der Wirtschaftsentwicklung der vergangenen Jahre profitierte und wer nicht: In der sonst so grauen Betonfassade leuchten manche Kästchen farbenfroh in pastellorange mit prallen PVC-Fensterrahmen in der Mitte. Bezahlt haben die Bewohner diese Sanierung aus eigener Tasche. An anderer Stelle ist die alte graue Holzkonstruktion noch da, umrahmt von den ebenso grauen Betonwänden.

Rossiza, ihrem Mann und ihren zwei Söhnen im Teenageralter gehört eines der grauen Zweizimmerkästchen im siebenten Stockwerk des Hauses. Der Mittelpunkt des Wohnzimmers ist der Fernseher. Vor ihm steht ein Tisch mit kaputter Glasplatte, zusammengehalten von braunem Klebeband. Rossiza serviert Kaffee für die Besucherin, doch richtig gemütlich wird es nicht: "Wir heizen nicht, wenn es einigermaßen geht“, sagt die Gastgeberin.

Arbeitslosigkeit und Depressionen

Rossiza war bis 1990 Buchhalterin. Während des Booms der freien Presse in den 1990er Jahren verkaufte sie Zeitungen, verlor dann jedoch ihre Stelle, als der Betreiber Pleite ging. Mit Gelegenheitsjobs hielt sie sich über Wasser, bis die Kinder kamen.

Ihr Mann, 46, studierter Ingenieur, musste nach der Wende von Firma zu Fima wechseln, weil ihm immer wieder gekündigt wurde. Schließlich arbeitete er als Taxifahrer und versuchte so, die Familie zu ernähren. Angekommen ist er in diesem Beruf nie. Seit drei Monaten nimmt er Medikamente gegen Depressionen. Sein Arbeitsvertrag mit der Firma ist beendet.

Durch die undichten Fenster lässt der Wind die Gardinen flattern. Rossiza erzählt von ihrem Alltag, der aus Hausarbeit und zähem Rechnen besteht: Wie das Monatsbudget am besten verteilen? 250 Euro Arbeitslosengeld von ihrem Mann sind es und die finanzielle Unterstützung ihres Bruders. "Ohne sie ginge die Rechnung überhaupt nicht auf“, sagt Rossiza. "Die Lebenshaltungskosten sind zu hoch, fast wie in Westeuropa, sagt man. Bei uns frisst die Korruption das, was eigentlich den Leuten zukommen soll.“ Dabei konnte Familie P. im Fernsehen viel über Reformen und die angebliche wirtschaftliche Stabilität des Landes erfahren: "Man sah stets stolze Politiker Bänder durchschneiden und neue Bauobjekte einweihen“, erzählt die Frau.

EU-Gelder flossen vor allem in große Infrastrukturprojekte und Businessparks. Einkaufszentren schossen in Sofia wie Pilze aus dem Boden.

Familie P. benutzt die neuen Autobahnen genauso wenig wie die 22 Prozent der Bulgaren, die unter der Armutsgrenze von 120 Euro im Monat leben. Die Einkaufszentren sind für die Söhne Slaw und Petar eine No-go-Area. Nicht, dass sie nicht hingehen dürften. Aber wenn sie mit Freunden dort unterwegs sind, spüren sie die Armut am deutlichsten: "Ich kann mich nur umschauen, aber nichts kaufen - und werde wütend“, meint der 15-jährige Slaw. Familie P. ist in Bulgarien keine Ausnahme: Der Lebensstandard hat sich in den vergangenen Jahren für die meisten kaum verbessert.

Das Durchschnittseinkommen im ärmsten EU-Land liegt bei gerade mal 360 Euro, die Renten bei 150 Euro. Die europäische Statistikbehörde sieht fast jeden zweiten Bulgaren von extremer Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.

Der Sturz des Ministerpräsidenten

Als die Regierung auch noch die Gas- und Strompreise anhob, gingen Mitte Februar die Massenproteste los: gegen die Armut und die politische Klasse. Die erhöhten Strompreise waren da nur der Auslöser. Der Unmut hatte sich über Jahre aufgestaut, in denen Misswirtschaft, Kriminalität und Korruption den Rechtsstaat und die Sozialsysteme aushöhlten. Probleme, die das EU-Land nicht in den Griff bekommt.

Die Demonstranten stürzten die Regierung unter Ministerpräsident Bojko Borissow von heute auf morgen. Politologen zufolge waren es vor allem Normalbürger mittleren Alters, die auf die Straße gingen - völlig desillusioniert darüber, dass der Übergang ihnen etwas gebracht hätte.

Auch Rossiza war bei den Protesten dabei. Sie sagt, sie habe die Solidarität der Menschen gespürt, die sich betrogen fühlen in der Erwartung, ein anständiges Leben führen zu können - genauso wie ihre Familie: "Als die demokratische Wende begann, haben wir uns glücklich geschätzt. So wie auch beim EU-Beitritt“, sagt Rossiza. "Jetzt glauben wir keinem Politiker, keiner Partei mehr.“

Die Ikone der Proteste

Aus Verzweiflung zündeten sich während der Proteste sogar fünf Männer an. Vorige Woche meldeten die Medien einen weiteren Fall an. Die meisten von ihnen waren Familienväter, die ihre Familien nicht mehr ernähren konnten. Vier dieser "menschlichen Fackeln“, wie sie in Zeitungsrubriken genannt werden, sind an ihren Verbrennungen gestorben.

Einer von ihnen, Plamen Goranow ist zur Ikone der Revolution geworden, die unter anderem mehr Bürgerbeteiligung fordert. Doch wie das genau erreicht werden soll, ist vielen wie Rossiza unklar. "Oft wache ich mitten in der Nacht auf, weil ich von brennenden Menschen träume“, erzählt Rossiza. "Wie konnte es nur so weit kommen?“

Am 12. Mai gab es Neuwahlen. Davor schnürte die Interimsregierung noch schnell Sozialpakete. "Das ist reine Show. Für viele Menschen kommen die Maßnahmen zu spät“, sagt Rossiza und fügt hinzu: "Doch was ich gut finde, ist, dass wir den Politikern mit den Protesten Angst gemacht haben. Das wird nachwirken.“

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