Geteilte Fahrscheine

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Die neue Armut in Sofia verhilft der Alltagssolidarität aus kommunistischen Zeiten zu neuem Leben.

Die Soziologin Rumiana Stoilova führt durch das Institut für Soziologie an der Akademie der Wissenschaften im Zentrum der bulgarischen Hauptstadt Sofia. "Sie interessieren sich für unseren Alltag?", fragt sie und deutet um sich herum: "Das ist unser Alltag!" Knarrende Holzböden in einem einst prächtigen, heute abgewohnten Gebäude. Am Eingang ein freundlicher Portier in weißem Mantel, Hüter über das einzige Telefon im Haus, das funktioniert. In einem holzgetäfelten Sitzungssaal mit zusammengewürfeltem Mobiliar aus wackeligen Bürosesseln halten die Mitarbeiter ihre Sprechstunden ab. Keine Arbeitszimmer, keine Infrastruktur. Auch an anderen Instituten ist es so. Die meisten Wissenschafterinnen und Wissenschafter arbeiten zu Hause.

Außer sie sind Molekularbiologin wie Jordana Todorova, die für ihre Forschungsarbeit ein Labor braucht - bräuchte! Die 38-jährige Wissenschafterin, spezialisiert auf DNA-bindende Proteine, absolvierte einen einjährigen Forschungsaufenthalt in Wien, war zwei Jahre am Karolinska Institut in Stockholm und kehrte dann nach Sofia zurück. Ihr Mann ist Schauspieler, für ihn gab es im Ausland keine adäquate Arbeitsmöglichkeit. Seit ihrer Rückkehr an die Akademie der Wissenschaften in Sofia schlägt sie die Zeit tot. Das Institut für Molekularbiologie scheint verwaist. Jordana Todorova sperrt ihr Büro auf und kann nur Bilder ihrer kleinen Tochter am Computer zeigen. Hier sitzt sie und sucht die Stellenanzeigen durch, loggt sich auf Homepages ausländischer Universitäten ein und träumt …

Brotjob neben Uni-Professur

Ihre Karriere als Wissenschafterin ist seit ihrer Rückkehr nach Sofia beendet. Das ist ihr klar. Das völlig veraltete Labor bietet nicht die Bedingungen, die sie für die Forschung auf ihrem Spezialgebiet bräuchte. Ihre Zukunft sieht Jordana Todorova nüchtern: Wenn sie Wissenschafterin bleiben will, muss sie Bulgarien wieder verlassen. Bleibt sie hier, muss sie irgendeinen Brotjob annehmen. Ihr Einkommen ist auf rund ein Zehntel dessen gesunken, was ihr Stipendium in Stockholm ausgemacht hat: auf etwa 200 Euro.

Viele Wissenschafter und Intellektuelle können sich eine Zukunft in Bulgarien nicht vorstellen, wandern aus: Der "Brain Drain", die Abwanderung der Bestqualifizierten, stellt das Land zunehmend vor Probleme. Für den Drang der Akademiker ins Ausland gibt es mehrere Gründe: Die veralteten Forschungseinrichtungen, die unterfinanzierte Forschungslandschaft und die niedrigen Gehälter. Aber nicht nur die Intellektuellen zieht es weg, insgesamt leben rund eine Million Bulgaren im Ausland - von 7,8 Millionen insgesamt.

Und von denen, die in Bulgarien bleiben, gibt es "nur eine kleine Minderheit, die über sehr viel Geld verfügt - die soziale Kluft im Land wird immer größer", konstatiert der Kulturanthropologe und Universitätsprofessor Ivaylo Ditchev. Während der Zeit des Kommunismus habe man zur Mittelschicht gehört, wenn man "die drei Schlüssel" hatte: einen Schlüssel für die Wohnung, einen für die Datscha und einen fürs Auto. Heute hätten einige mehr als drei Schlüssel, aber zur Mittelschicht gehörten sie trotzdem nicht mehr, sagt Ditchev. Das Durchschnittseinkommen in Bulgarien beträgt rund 200 Euro im Monat, ein Universitätsprofessor verdient an die 300 Euro. Und Ditchev ist sich nicht sicher, ob er damit selbst überhaupt noch zur Mittelschicht zählt.

Die Ungleichheit im Land führt zu Unzufriedenheit, sagt Soziologin Stoilova. Politisch manifestiert sich diese in geringer Wahlbeteiligung und im Votum für extreme Parteien. Beispielhaft dafür ist der Aufstieg von "Ataka". Die Partei mit dem programmatischen Namen erzielte bei der Parlamentswahl 2005 auf Anhieb neun Prozent der Stimmen, ist offen rassistisch, tritt gegen Roma, Türken und Juden auf, ist US-feindlich und wettert gegen die EU. Verbreitet werden die Hasstiraden in der eigenen Tageszeitung und in Ataka-TV.

Die teuren Autos westlicher Nobelmarken, die zum Stadtbild von Sofia ebenso gehören, wie verstopfte Straßen, verparkte Gehsteige und ständige Verkehrsstaus, sind jener sozialen Schicht vorbehalten, die sich gewiss nicht fragt, ob sie noch zur Mittelschicht zählt. Es sind die Aufsteiger, die mit Geschäften zu Reichtum gekommen sind, über die nur hinter vorgehaltener Hand geredet wird. Stoilova spricht von "schmutzigem Geld". Die neuen Reichen von Sofia siedeln sich bevorzugt an der Peripherie an. Dort zu wohnen, ist mit großem Prestige verbunden. Am Stadtrand, vor allem am Fuße des Vitosha Berges im Südosten, hat dieser Trend zu großen Investitionen geführt. Bis an die Grenze zum Naturpark des Vitosha Berges ziehen sich die Villen, zum Teil burg- und palastähnliche Bauten. Von hohen Zäunen und Mauern umgebene Gebäude, streng bewacht von Hunden. "Gated Communities" werden diese eingezäunten Wohnsiedlungen, mit einem Schranken und einem Wachmann am Eingang genannt. Dabei ist noch keines dieser schicken Wohnviertel am Fuße des Vitosha an das öffentliche Kanalnetz angeschlossen; die Straßen sind ungepflasterte Feldwege mit tiefen Schlaglöchern und immer wieder fällt der Strom aus.

KP-Humor blüht wieder auf

Für die Mehrheit der Bevölkerung sind die öffentlichen Verkehrsmittel - Straßenbahn und Bus - nach wie vor Fortbewegungsmittel Nummer eins in Sofia. Wer Bahn oder Bus in der Hauptstadt erstmals benützt, macht Bekanntschaft mit einem sozialen Phänomen: Beim Einsteigen in die Straßenbahn drückt mir eine Frau wortlos ihren Fahrschein in die Hand und bedeutet, damit könne ich mir das Entwerten meines Fahrscheins sparen. Nachdem mir bei weiteren Straßenbahnfahrten das Gleiche passiert, ist klar: Dahinter steckt ein System der Alltagssolidarität. Wer aussteigt, klemmt seinen Fahrschein ans Fenster oder lässt ihn unauffällig auf dem Sitz liegen. Soziologin Stoilova nickt wissend und interpretiert: "Daran zeigt sich die Entfremdung der Bürger vom Staat, wie in kommunistischen Zeiten." Und sie erinnert an den alten Witz: "Der Staat tut so, als würde er uns für unsere Arbeit bezahlen und wir tun so, als würden wir arbeiten!" Mit anderen Worten: Die Menschen kämpfen nicht für eine Fahrpreisermäßigung, sondern sie ermäßigen sich ihren Fahrpreis - 30 Cent im Vorverkauf - auf ihre Art selbst.

Sie trägt ihre Rente im Knie

Seit der Wende in Bulgarien sind bald 20 Jahre vergangen. Seit Anfang 2007 ist Bulgarien EU-Mitglied. Die junge Generation der Bulgaren kennt die KP-Zeit nur mehr aus Erzählungen. Die 79 Jahre alte Olga Krasteva jedoch weiß, wovon sie spricht, wenn sie den sozialen Abstieg vieler nach der Wende beschreibt. Krasteva ist Schriftstellerin und hat eine Frauenrunde in ihre hübsche Altbauwohnung im Zentrum Sofias zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Damen im Alter zwischen 52 und 83, alle hochgebildet, redegewandt, perfekt im Deutschen und von einer ansteckenden Fröhlichkeit. Olga Krastevas Pension beträgt 60 Euro im Monat; über die Runden kommt sie nur, weil die Wohnung vor der kommunistischen Machtübernahme ihrer Familie gehört und sie diese im Zuge der Restitution von Eigentum nach der Wende zurückbekommen hat.

Von der staatlichen Rente könne man nicht leben, bestätigt auch ihre Freundin Vaseja Radeva, die im selben Haus wohnt. Eine vornehme Dame von umwerfendem Charisma, der ihr Alter nicht anzusehen ist: Sie ist 83, war eine berühmte Sängerin und trat mehr als zwei Jahrzehnte lang an der nationalen Oper in Sofia auf. Vaseja Radeva bringt es auf rund 65 Euro Rente im Monat. Überleben kann auch sie nur, weil sie durch die Restitution Eigentum zurückbekommen hat. Eine ihrer Wohnungen hat sie nun an eine österreichische Pharmafirma vermietet.

Die Damenrunde bei Krasteva wundert sich, wer es sich leisten kann, in den schicken Boutiquen, Schuhgeschäften und Geschäftsfilialen internationaler Modekonzerne auf dem Vitosha Boulevard, der Shoppingstraße Sofias, einzukaufen, wo die Preise auf westeuropäischem Niveau liegen. Die alten Damen kaufen ihre Kleider in den Billiggeschäften in den unterirdischen Einkaufspassagen, wo es Blusen zu umgerechnet 1,50 Euro gibt - im Dreierpack.

Vaseja Radeva ist vor kurzem gestürzt, verletzte sich das Knie und musste deswegen zum Arzt: "Seither trage ich meine Rente im Knie" erzählt sie zur allgemeinen Erheiterung. 60 Euro kostet eine Behandlung beim Arzt! Ihren Humor lassen sich die Damen nicht nehmen, den brauchten sie zum Überleben - und das nicht erst seit der Wende.

Die Autorin ist freie Journalistin.

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