Ränder und Risse

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Literatur bLickt in die geseLLschaft: aktueLLe romane über ausrangierte und gutsituierte, aufständische und gefaLLene.

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Literatur bLickt in die geseLLschaft: aktueLLe romane über ausrangierte und gutsituierte, aufständische und gefaLLene.

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Es gebe keine Flaneure mehr, meinte der deutsche Schriftsteller Wilhelm Genazino unlängst in einem Ö1-Interview, anlässlich seines 70. Geburtstages und der Veröffentlichung seines Buches "Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands" (Hanser 2013). Die schöngeistigen Flaneure des 19. Jahrhunderts seien den Streunern gewichen - und diese zögen gepeinigt von ihren Alltagssorgen durch die Stadt, etwa mit der Frage, ob sie vielleicht demnächst arbeitslos sind. Rasch kann man unbrauchbar werden - wie die Protagonistin Maria in "Der Winter tut den Fischen gut" (Residenz 2012), einem Roman der jungen Schriftstellerin Anna Weidenholzer. Die 48-jährige Maria hat ihren Job als Textilverkäuferin verloren und ist in dieser Branche und mit diesem Alter nicht vermittelbar. Nun trifft sich die Witwe nicht mehr mit jenen Kolleginnen, die noch in der Boutique arbeiten, sie wechselt die Straßenseite, um nicht jemandem zu begegnen, der sie fragen könnte, warum sie nicht bei der Arbeit ist. Sie wartet. Sich verleugnen, nicht mehr unter die Leute gehen vor lauter Scham, unsichtbar werden, warten: So jemand flaniert nicht durch die Stadt.

Menschen kippen durch ihre Arbeitslosigkeit aus der Mitte an den Rand der Gesellschaft und werden unsichtbar: Sie verschwinden aus der Wahrnehmung und wissen aufgrund ihres bisherigen, auch durch die Arbeit geprägten Selbstbewusstseins nicht mehr, wie sie mit sich selbst zurechtkommen sollen. Wer ist man eigentlich, wenn man gerade noch erfolgreich war und gerne gearbeitet hat, sich nun aber von anderen, die (noch) Arbeit haben, fragen lassen muss, als wäre man selbst schuld: Es kann doch nicht sein, dass du nichts findest?

Doch, es kann. Es sind Ausrangierte wie Maria, die die Romane der Gegenwart bevölkern. Dort werden sie immerhin sichtbar, rücken oft sogar in den Mittelpunkt des Interesses. Wie jene Hunde, die der französische Autor Jean Rolin in seiner literarischen Reportage "Einen toten Hund ihm nach" (Berlin 2012) an den Rändern der Welt aufsucht. Indem er die Situation der verwilderten Hunde beschreibt, umreißt er zugleich den Zustand der Gesellschaft.

Hoffnung auf Erfolg

Auch Alan Clay, der Protagonist in Dave Eggers' neuem Roman "A Hologram for the King", der am 14. Februar auf Deutsch erscheinen wird ("Ein Hologramm für den König", Kiepenheuer und Witsch 2013), steht in Gefahr, nach erfolgreichen Jahren als erfindungsreicher Unternehmer und Vertreter der produzierenden Old Economy bald völlig nutzlos zu werden und seiner Tochter das College nicht mehr bezahlen zu können. In der Hoffnung, endlich, endlich wieder einen großen Auftrag an Land zu ziehen, reist er nach Saudi-Arabien, um dort auf den König zu warten und mit ihm ins große Geschäft zu kommen. Die traditionellen Produktionen finden längst in China statt, nun scheint auch die New Economy nach China abzuwandern

Wenigstens in der Literatur dürfen sie sichtbar werden, die Gestrandeten. Auch die Mechanismen des Kapitalismus rücken ins Zentrum des Interesses, und es kommt wohl nicht von ungefähr, dass dieser Tage der 1927 erstmals erschienene Roman "Oil!" von Upton Sinclair in einer Neuübersetzung von Andrea Ott erscheint (Manesse 2013). Der von Charles Dickens, Émile Zola und Percy Bysshe Shelley beeinflusste US-amerikanische Schriftsteller erregte mit seinem aktuell gebliebenen Roman über den Ölmagnaten J. Arnold Ross und seinen Sohn Bunny, der Sympathien für die Arbeiter entwickelt und dabei die Abgründe des Kapitalismus entdeckt, immense Aufmerksamkeit. Keine Geschichte könnte wahrer sein, meinte der Autor über seinen fiktiven Roman, für den er viel recherchiert hatte und der achtzig Jahre später verfilmt -"There will be Blood" (2007) - und oskargekrönt wurde.

Die Aufmerksamkeit gilt zurzeit vor allem jenen, denen nun das Etikett "Best of Böse" angeheftet wird: den Bankern, den Managern. Sie stehen spätestens seit den Geschehnissen des Herbstes 2008 unter dem Generalverdacht der Ausbeutung und Selbstbereicherung. So schaut der (literarisch wenig anspruchsvolle) Roman "Gibraltar" von Sascha Reh (Schöffling 2013) in die (auch geschichtlichen) Abgründe von Unternehmen und thematisiert den hochaktuellen Spekulationswahnsinn. Reh lässt den Investmentbanker Bernhard Milbrandt mit dem Kernkapital des traditionsreichen Bankhauses Alberts riskanteste Spekulationen durchführen und nach Spanien fliehen.

Aufgrund der Geschehnisse der letzten Jahre wundert es nicht, dass Schwarz-Weiß-Malereien fröhliche Urständ feiern, Manifeste des Aufstandes und der Empörung die Runde machen und der Zorn des Volkes zu brodeln beginnt. Wohin die Wut führen kann, nämlich bis hin zu Gewalt und sogar Mord, erzählt der kroatische Autor Edo Popovi´c in seinem Roman "Der Aufstand der Ungenießbaren" (Luchterhand 2012). Er verlegt das Geschehen in die nahe Zukunft. Der jugoslawische Bruderkrieg ist vorbei, Kroatien ist kein Staat mehr, das Land wurde "geplündert (man nannte das 4'Privatisierung' oder 'Verkleinerung des öffentlichen Sektors') und ausverkauft samt allem, was zum Land gehörte, Wasser und Luft inbegriffen." Die adriatische Küste befindet sich im Besitz von Offshore-Firmen und Banken, sieben ummauerte Städte bilden eine Holding, "die von Steuern, Handel und Maklergeschäften lebt". Alle anderen Güter befinden sich in Besitz von Großbetrieben.

Was niemand braucht

"Das Gebiet außerhalb der Mauern und Zäune wird die Zone genannt. Es ist ein Niemandsland. Alles, was die Holding nach dem Verschlucken verdaut, endet dort, und auch all das, was keinen Profit bringt: die Deponien für nuklearen, chemischen, medizinischen und kommunalen Müll, die öffentlichen Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen und Universitäten, die Theater, Armen-und Waisenhäuser, Obdachlosenunterkünfte, überschüssige Arbeitskräfte, Alte, Kranke, unfruchtbare Erde." Kurz gesagt, in der Zone befinden sich "Unmengen ausgeplünderter und ausrangierter Menschen und Dinge, die niemand braucht und die man durch keine Magie der Welt in Profit und Spektakel verwandeln kann."

In der Holding, die innerhalb der Mauern alles beherrscht, ist alles verboten, "was die Gehirnwindungen auf Vordermann bringen könnte", vor allem Literatur ist verschwunden: "Cervantes, Boccaccio, Flaubert, Whitman, Melville, Tolstoi, Babel, Villon, Dostojewski, Krleˇza, Bulgakov, Genet, Döblin, Wolfe, Sever, Dˇzubran, Zupan, Valent". "Die Schriftsteller sind zu Handwerkern geworden und die Leser zu Käufern. Was gut verkauft wird, ist gesund. Was nicht verkauft wird, ist krank, bedrohlich und hat zu verschwinden."

Aus dieser Situation wächst aber auch Widerstand, und der liest sich teils wie die Umsetzung des Manifestes "Der kommende Aufstand", der vor einigen Jahren für Wirbel gesorgt hatte. Es beginnt mit provokanter Antikonsumhaltung, die "Ungenießbaren" sagen der Holding den Kampf an -doch einige gehen weiter, als es anderen recht ist: nämlich bis zum Mord.

"WIR WOLLEN WAS IHR HABT": Diese beunruhigende Botschaft beherrscht den Roman "Kapital" von John Lanchester (Klett-Cotta 2012). Da sieht man -wie in einem Film -zunächst einem jungen Mann zu, wie er die Häuser einer Londoner Straße filmt, Häuser, die in den vorausgegangenen Jahren an Wert enorm zugenommen haben. "Wenn man ein Haus in der Pepys Road besaß, dann war das so, als befände man sich in einem Spielcasino mit Gewinngarantie. Wohnte man bereits dort, war man reich. Wollte man dort hinziehen, musste man reich sein. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass dies der Fall war. Großbritannien war zu einem Land von Gewinnern und Verlierern geworden, und alle Menschen in dieser Straße hatten allein durch die Tatsache, dass sie dort wohnten, gewonnen. Der junge Mann, der an diesem Sommermorgen in die Gegend gekommen war, filmte eine Straße von Gewinnern."

Straße der Gewinner

Im Englischen enthält der Titel des Romans "Capital" eine Doppeldeutigkeit, die ihm in der deutschen Übersetzung leider verloren geht: Es geht um Kapital, und es geht um die Hauptstadt. Kaum eine Stadt ist so geeignet, den geradezu unverschämten Reichtum einerseits und die Abgründe der Ränder andererseits sichtbar zu machen, wie London. Lanchester wählt nun weder die Zone des absoluten Glanzes oder jene des absoluten Elends, sondern genau jene, die früher noch für einen gemäßigten Mittelstand stand, in der nun aber -durch das rasante Ansteigen der Immobilienpreise -die Bewohner der Häuser quasi über Nacht zu reichen Menschen geworden sind. Und diese Hausbesitzer in der Pepys Road erhalten nun alle vierzehn Tage Postkarten mit dem Abbild ihres Hauses und diesem bedrohlich klingenden Satz.

Im Kleinen das Große

Nun besteht Lanchesters Kunst darin, die Leben der Bewohner dieser Häuser zu erzählen und jener, die aus welchen Gründen auch immer in diese Straße kommen. Mit diesen Lebensgeschichten und Zukunftsentwürfen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, schreitet Lanchester die Gesellschaft ab, die Mitte der angestellten Bürger ebenso wie die Ränder asylantragstellender Immigranten. Er bildet im Kleinen die Risse der Gesellschaft im Großen ab: Da gibt es jene, die Geld ausgeben, indem sie das Haus ständig umbauen lassen, und die Polen, die diese Arbeit durchführen. Da gibt es jene, die Strafzettel an die teuersten Autos hängen (als Spiel unter Kollegen: Es gewinnt, wem es gelingt, das teuerste Auto zu erwischen), und jene, denen dieses Auto gehört. Da gibt es jene, die auf Jagd gehen und das Zuviel an abgeschossenen Fasanen unter die Erde pflügen, und jene, die gerade noch auf einen Millionenbonus hofften, bald aber arbeitslos sein werden.

Lanchester setzte seinen umfangreichen Roman (in den auch einige hollywoodanmutende Szenen gerutscht sind) in die brisante Zeit zwischen Dezember 2007 und November 2008. Parallel zur Finanzkrise spielen sich hier, in der Straße der Gewinner, sehr viele Verluste ab: Der angehende Fußballstar bricht sich das Bein und wird nie wieder spielen können, der Finanzer Roger verliert durch eine Intrige seines Stellvertreters seinen Job und ein Pakistani wird des Terrorismus verdächtigt: "in einem Land, das sich selbst für die Wiege der Freiheit hält", werden "Menschen im Morgengrauen mit vorgehaltenen Pistolen aus dem Schlaf gerissen". Auch das ist London.

Wer auch immer ein Haus in der Pepys Road bewohnt, erhält die Karten, später sogar DVDs mit Film. Über die bedrohliche Aussage "WIR WOLLEN WAS IHR HABT" muss die alte, verwitwete Petunia lächeln. "Warum in aller Welt sollte irgendjemand das haben wollen, was sie hatte!" Sie wird bald an einem Tumor sterben.

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