6743075-1966_49_12.jpg
Digital In Arbeit

NOBELPREIS FÜR DIE DIASPORA

Werbung
Werbung
Werbung

Leonie Sachs wurde als Untertanin des deutschen Kaisers geboren. „Leonie Sachs“ hieß sie in den Reisepässen; es waren anfangs deutsche Pässe. Irgendwo im Hintergrund schaukelte sich, wie ein kleines Boot in der Ferne, die jüdische Abstammung. Wenn die Dinge ihren normalen Lauf genommen hätten, wäre das Boot immer kleiner geworden und — wer weiß? — vielleicht wäre es einmal hinter dem Vorhang des Horizontes verschwunden. Der Lauf der Dinge wurde jedoch verändert und das kleine Boot begann, statt zum verdeckten Horizont in verkehrter Richtung zu schwimmen. Es näherte sich immer mehr dem Vordergrund, um plötzlich, ganz nahe und groß, den Anker im Hafen des Bewußtseins zu werfen. Trotzdem ist Leonie Sachs eine Deutsche geblieben, eine Deutsche mit einem jüdischen Boot, welches zwangsweise in ihrem Herzen verankert ist.

„Leonie Sachs“ hieß es in den Pässen. Auf den Gedichtebänden heißt es „Nelly Sachs“. Ihr erster Band — „Wohnungen des Todes“ — erschien im Jahre 1947. Die Verfasserin war damals 56 Jahre alt. Rimbaud hat sein „Bateau ivre" mit Siebzehn geschrieben. Ich habe ein Gedicht von Nelly Sachs, das vor 1933 in einer Zeitschrift gedruckt wurde, gelesen. Es hat mich nicht überzeugt. Ihre späten Gedichte dagegen atmen die Luft der Poesie. Die Verfolgungen haben sie nicht nur zur Jüdin, sondern auch zur Dichterin geschlagen.

Ich habe soeben das frühe Gedicht erwähnt, das mich nicht überzeugte. Es war aber nicht das erste Gedicht von Nelly Sachs, welches ich gelesen habe. Das erste war dieses, welches mit den Worten „Heilige Minute“ beginnt. Ich wußte damals nichts Näheres über die Autorin. Erst nachher erfuhr ich, daß sie über Siebzig ist. Ich konnte es nicht fassen, daß eine so alte Frau so moderne Gedichte schreibt. H. Magnus Enzensberg, der große Anhänger Nelly Sachs’, charakterisiert ihre Gedichte so; „Sie sind hart, aber durchsichtig. Sie lösen sich nicht in der Lauge der Deutungen auf...“ Die Dichterin selbst sagt, daß sie die ersten Buchstaben der wortlosen Sprache suche... Die Worte dieser wortlosen Sprache sind jedoch deutsch. Ich hoffte anfangs, einen Dualismus finden zu können: Leonie Sachs die Deutsche und Nelly Sachs die Jüdin. Es gibt aber keinen Dualismus. Vor uns ateht eine Deutsche mit dem jüdischen Anker im Herzen,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung