Der Himmel übt an dir Zerbrechen

19451960198020002020

Am 12. Mai 1970, nur drei Wochen nach Paul Celans Tod (vgl. Furche 14/00), starb die jüdische Dichterin Nelly Sachs. Sie war- als Überlebende der Schoa - eine Stimme der Erinnerung und der Verzweiflung: Ein Hiob des 20. Jahrhunderts.

19451960198020002020

Am 12. Mai 1970, nur drei Wochen nach Paul Celans Tod (vgl. Furche 14/00), starb die jüdische Dichterin Nelly Sachs. Sie war- als Überlebende der Schoa - eine Stimme der Erinnerung und der Verzweiflung: Ein Hiob des 20. Jahrhunderts.

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn wir leiden, gehören wir nur noch Gott, schreibt Nelly Sachs in der weißen Maiennacht zum 12. Mai 1960 an Paul Celan, kurz bevor sich beide in Zürich, im Hotel "Zum Storchen", persönlich kennengelernt haben, nachdem sie bereits drei Jahre korrespondiert und in einander eine tiefe Verwandtschaft entdeckt hatten. (Wir Waisen gleichen niemand mehr auf der Welt!) Beide schmerzte lebenslang die gleiche Wunde, die nicht heilen darf, die "drastische Schuld" der vom Holocaust Verschonten.

Celan, dessen Eltern in einem rumänisch-deutschen Todeslager ermordet worden waren, lebte als Emigrant in Paris, Nelly Sachs war es in letzter Sekunde gelungen, mit ihrer Mutter der tödlichen Bedrohung zu entkommen. Die kleine, scheue Frau hatte bereits den Gestellungsbefehl in ein Arbeitslager in Händen, der 70-jährigen kränklichen Mutter war der Abtransport nach Theresienstadt sicher. Mit Hilfe von Freunden und der Dichterin Selma Lagerlöf konnten beide mit einem der letzten Passagierflugzeuge von Berlin nach Stockholm dem Zugriff der Nazis entfliehen. Dort lebte sie in den ersten Jahren in äußerst beengten Umständen, fristete das Leben mit Übersetzungsarbeiten und ging völlig auf in der Pflege der Mutter, nach deren Tod 1950 sie nervlich völlig zusammenbrach.

Dichterfreundschaft Beide, Paul Celan und Nelly Sachs, lebten in einem fremden Land, Heimat war ihnen nur die - deutsche - Sprache. Mit großer Empfindsamkeit, ja Empfindlichkeit, registrierten sie überdeutlich persönliche Kränkungen, empfanden sie Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Dichtung als Angriffe auf ihre schöpferische Individualität, spürten sie wie Seismographen antisemitische Regungen. Beide waren durch schwere psychische Krisen, ja Krankheiten an den Rand der Existenz getrieben, die bei Celan im April 1970 in den Freitod führten, und die Nelly Sachs jahrelang in psychiatrischen Kliniken festhielten: Ich kann ja nicht arbeiten mit den Schockbehandlungen, weil ich alles vergesse, nur was ich vergessen soll, vergesse ich nicht ...

Vieles in ihrer Biographie, von Kind an durch Einsamkeit geprägt, ist dunkel geblieben, von der Anhänglichkeit zur mächtigen Gestalt ihres Vaters, den sie vor seinem Tod 1930 ebenso aufopfernd pflegt wie später ihre Mutter, bis zur vielleicht tiefsten Wunde ihres Lebens, die nicht heilen konnte, einem Liebeserlebnis, das sie mit 17 hatte, und dessen Erfüllung ihr verwehrt blieb. Nur in der Andeutung einer schrecklichen Verknüpfung sprach Nelly Sachs darüber - und in ihren Gedichten "Gebete für den toten Bräutigam" -, wie es bis 1938 noch zu Begegnungen kam, von denen die letzte ein gemeinsames Verhör vor der Gestapo gewesen sein muss, das vor ihren Augen mit Folter und Tod des Geliebten, eines nichtjüdischen Widerstandskämpfers, geendet hat. O, mein Geliebter, welcher Sand / weiß um dein Blut?

Der Briefwechsel zwischen Paul Celan und Nelly Sachs zählt zu den berührendsten Zeugnissen von Dichterfreundschaften, bis hartes Schweigen sich auf Schweigen senkte und der Kontakt zwischen ihnen wenige Monate vor beider nur drei Wochen auseinander liegendem Tod abgerissen war. Aber wie sie da einander ihre Ängste und erlittenen Demütigungen eröffneten - Celan hatte gerade die hässliche Verleumdungskampagne von Claire Goll wegen eines angeblichen Plagiats Celans an Yvan Goll durchzustehen, als ihm an jenem 12. Mai 1960 Nelly Sachs schrieb, dass sie allen Freunden und Bekannten ans Herz legte, den Hölderlin unserer Zeit zu retten aus diesem schrecklichen Wirrsal ...

Wie sie einander über fast zehn Jahre hin trösten und segnen, retten und Mut zusprechen wollten! Nelly Sachs war gerade so wundgeschlagen von einem Erlebnis, dem sie zutiefst enttäuschenden Ende der Freundschaft zu dem jungen Lyriker und Literaturkritiker Peter Hamm, und schrieb in der weißen Maiennacht: ... Der Einsame und die schlafenden Jünger - ewiges Bild. Wenn wir leiden, gehören wir nur noch Gott - darum verlassen uns die Freunde. Zwei Wochen später ist es zu der persönlichen Begegnung gekommen, die von beiden wie ein mystisches Erlebnis an jenem Tag einer Himmelfahrt erinnert wird, wo sie offenbar auf der Terasse des Hotel "Zum Storchen" gesessen waren und sich die goldene Sonne und das Münster im Wasser der Limmat gespiegelt hatten, wo vom Zuviel die Rede war und vom Zuwenig. Vom Du / und Aber-Du, von / der Trübung durch Helles, von / Jüdischem, von / deinem Gott. So Paul Celan in seinem Gedicht "Zürich, Zum Storchen" Für Nelly Sachs.

Während Celans Dichtung ein - zu kurzes - Leben lang geprägt war von der Suche nach seiner jüdischen Identität und vom erneuten Ringen um einen Gott, der ihm nach der Schoa vollends in Frage gestellt, ja abhanden gekommen schien, so hielt es Nelly Sachs zeitlebens mit Hiob: sie klagte, aber klagte nicht an, und "ihr" Gott wurde von ihr nie in Frage gestellt oder zur Rechenschaft gezogen. Obwohl sie neben Celan die größte Klagende über die Leiden und die Hinmordung ihres Volkes geworden und geblieben ist, griff ihre Klage darüber hinaus.

Gnade für Eichmann?

In einem ihrer eindrucksvollsten Gedichte, der "Landschaft aus Schreien", steht neben Abrahams Herz-Sohn-Schrei der Schrei verborgen im Ölberg, wird neben dem Morija-Felsen Abrahams, dem Klippenabsturz zu Gott Golgata sichtbar, wo das blutende Auge in der zerfetzten Sonnenfinsternis / zum Gott-Trocknen aufgehängt ist, im Weltall, steht Hiroshima neben Majdanek.

Ihr Werk ist eine Klage über die Leiden der Menschheit. Dass sie dafür 1966 - zusammen mit dem israelischen Dichter Samuel Josef Agnon - den Nobelpreis unter ausdrücklichem Hinweis bekommen hat, dass ihre Dichtung "mit ergreifender Kraft von Israels Schicksal" spreche, hat sie eher verstimmt.

So bitter auch die Klage ihrer Lyrik und ihrer wenigen mysterienspielhaften szenischen Dichtungen ist, sosehr ist sie auch von Versöhnungssehnsucht erfüllt, die soweit ging, dass sie sogar ein Gnadengesuch für Eichmann an den israelischen Präsidenten Ben Gurion richtete: ... auch in Deutschland gab es die Gerechten - um ihretwillen sei es Gnadenzeit!

Was die Religionen und auch ihre Nähe zum Christentum betrifft, hat sie immer wieder dafür plädiert, dass die Grenzen dazwischen die Menschen nicht mehr trennen sollten.

Dennoch hat sie ihr Judentum nicht verleugnet oder verwässert; auch wenn sie neben Schriften der Kabbala und des Chassidismus zeitweilig hingebungsvoll christliche Mystiker gelesen hat, vor allem Franz von Assisi, und sogar einmal an Konversion gedacht haben soll, blieb ihr Flügel der Prophetie / an der Schulter aus Wüstensand, blieb sie zuinnerst dem Judentum zugehörig, wie die immer wiederkehrende Metaphern der Füße und des Sandes, diese Erinnerung an den Befreiungszug durch die Wüste aus der Knechtschaft Ägyptens, verdeutlichen: O Israel, von deiner Füße Leid / Bin ich ein Echo, das zum Himmel gellt.

1969, im letzten Jahr des Briefwechsels - und des Lebens - von Nelly Sachs und Paul Celan, bleiben die Worte karg, wie schon längere Zeit vorher. Von Celan sind Grüße aus Jerusalem eine der letzten Botschaften; von Nelly Sachs eine Karte: Alle Deine Gedichte sind bei mir in der Schmerzenszeit. Im Krankenhaus erfährt Nelly Sachs von einem Freund vom Freitod Celans. Verwundert soll sie von "Vorausgehen" gesprochen haben, dann soll ihr Gesicht "glatt und fast zufrieden" geworden sein. Drei Wochen später, am 12. Mai 1970, stirbt sie an ihrem Krebsleiden.

BUCHTIPPS Fahrt ins Staublose. Gedichte. Von Nelly Sachs. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1991. 402 Seiten, TB, öS 145,-/e 9,82 Nelly Sachs. Eine Biographie. Von Ruth Dinesen. Aus dem Dänischen von Gabriele Gerecke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1994. 390 Seiten, TB, öS 73,-/e 4,95 Paul Celan. Nelly Sachs. Briefwechsel. Hg. von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/ Main 1996. 390 Seiten, TB, öS 108,-/e 7,31 IN DER FLUCHT Welch großer Empfang Unterwegs Eingehüllt in der Winde Tuch Füße im Gebet des Sandes der niemals Amen sagen kann denn er muß von der Flosse in den Flügel und weiter Der kranke Schmetterling weiß bald wieder vom Meer Dieser Stein mit der Inschrift der Fliege hat sich mir in die Hand gegeben An Stelle von Heimat halte ich die Verwandlungen der Welt (aus: "Fahrt ins Staublose" S. 262)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung