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„Ich schrieb, um zu überleben“

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Wir haben, fast zur selben Zeit, zwei große Lyriker deutscher Zunge verloren, die beide ihrer Sprache in der Emigration treu geblieben sind, wollend und müssend. Paul Celan, der eine, fand den Tod in der Seine, Nelly Sachs, die andere, erhielt in Stockholm die letzte Antwort ihres großen Gesprächspartners Tod.

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Wir haben, fast zur selben Zeit, zwei große Lyriker deutscher Zunge verloren, die beide ihrer Sprache in der Emigration treu geblieben sind, wollend und müssend. Paul Celan, der eine, fand den Tod in der Seine, Nelly Sachs, die andere, erhielt in Stockholm die letzte Antwort ihres großen Gesprächspartners Tod.

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Wer ruft?

Die eigene Stimme!

Wer antwortet?

Tod!

Geht die Freundschaft unter im Heerlager des Schlafes?

Ja!

Warum kräht kein Hahn?

Er wartet bis der Rosmarinkuß auf dem Wasser schwimmt!

Was ist das?

Der Augenblick Verlassenheit, aus dem die Zeit fortfiel, getötet von Ewigkeit!

Was ist das?

Schlaf und Sterben sind eigenschaftslos.

Paul Celan hat sein Gedicht „Zürich, zum Storchen“ der Nelly Sachs gewidmet

Vom Zuviel war die Rede vom Zuwenig. Von Du und Aber-Du, von der Trübung durch Helles, von Jüdischem, von deinem Gott. —

Davon. Am Tag einer Himmelfahrt, das Münster stand drüben, es kam mit einigem Gefühl übers Wasser. Von deinem Gott war die Rede, ich sprach gegen ihn, ich ließ das Herz, das ich hatte, hoffen: auf sein höchstes, umröcheltes, sein haderndes Wort —

Dein Aug sah mir zu, sah hinweg, dein Mund sprach sich dem Aug zu, ich hörte: Wir wissen ja nicht, weißt du, wir wissen ja nicht, was gilt.

In diesem Gedicht verlangt der Jude Celan der Jüdin Sachs etwas ab, was sie nicht geleistet hätte: nach dem Martyrium der Judenheit durch die braune Barbarei des alttestamentarischen Gottes rächende Sprache zu sprechen, dem Feinde Israels zu fluchen, sich im verengt-patriotischen Sinn zu ihrem Volke zu bekennen. Mit den Worten:

Am Tag einer Himmelfahrt, das Münster stand drüben, es kam mit einigem Gefühl übers Wasser nimmt er für Nelly Sachs und sich den gleichen Abstand vom Christentum, gewinnt er mit einer ironischen Nuance Besonderung, macht sich gemein mit ihr, nur um ihr abschließend den hilflosen Satz in den Mund legen zu können:

Wir wissen ja nicht, weißt du wir wissen ja nicht, was gilt.

Aber genau in dieser Implikation liegt der Vorwurf, an dem vielleicht der Mensch Paul Celan zerbrochen ist, der aber Nelly Sachs überhaupt nicht trifft: er reicht gar nicht an sie heran. So sinn- und fruchtlos es wäre, dem Phänomen dieser Lyrikerin durch Vergleiche mit anderen Dichtem, germanistischem Erklügeln von stilistischen Abhängigkeiten und dergleichen beikommen zu wollen, so absurd ist es auch, ihr Resignation zu supponieren, so zu tun, als käme es ihr — und damit gleich allen Dichtem — darauf an, das Unrecht an- zuprangem in jeglicher Gestalt, als sei dies die ratio entis des Poeten schlechthin, als könne sie ihr nicht genügen, als trauere sie deswegen, wie über einen Makel, eine schmerzliche Unfähigkeit. Aber Nelly Sachs entzieht sich ebenso der nationalsozialistischen Menschheitseinteilung wie der bundesdeutschen Vereinnahmung durch vergangenheitsbewältigende Literaten, wie endlich auch irgendeinem jüdischen Chauvinismus. Sie wußte bis zum Jahre 1939 überhaupt nichts von jüdischer Mystik, und wenn etwa Olof Lagercrantz in seinem Versuch über die Lyrik der Nelly Sachs aus ihr eine Art Sohar- Studentin machen will, so steht dem das eigene Zeugnis der Dichterin entgegen, daß sie erst im Jahre 1950 ein Kapitel daraus kennengelernt hätte, und daß dies das einzige aus dem mittelalterlichen Hauptwerke der jüdischen Mystik geblieben sei, das sie gelesen habe. Ein Irrtum wie der von Lagercrantz wird überhaupt erst verständlich, wenn man sich vor Augen hält, daß der Sohar bestimmend für Jakob Böhme war, daß der protestantische Mystiker, Philosoph und Schuhmachermeister aus Görlitz, der im großbürgerlich-laizistischen Berliner Milieu aufgewachsenen Nelly Sachs hin wiederum näher lag als ein Werk, zu dessen Studium rabbinische Gelehrsamkeit vonnöten ist. Nelly Sachs hat vieles gelesen, aber stets tastend, ohne System, ebenso weit entfernt von Wissenschaftlichkeit wie vom Bildungsdrang im schulisch-klassischen Sinne, immer nur in dem einen Bestreben: für ein leidendes und verlassenes Dasein Sinn zu Anden — zuerst für das eigene, dann für das der Menschheit, schließlich für jenes der ganzen Schöpfung. Was sie so an gleichsam präformierter Mystik aufnahm, ist meist Gemeingut. Und eben das war ihre wichtigste geistige Entdeckung: sie fand sich zwar immer wieder verlassen. Aber niemals allein.

Am 18. Mai 1940 bestieg Nelly Sachs, damals achtundvierzig Jahre alt, zusammen mit ihrer neunundsechzig Jahre alten Mutter als später Flüchtling vor dem Nationalsozialismus ein Flugzeug, das sie von Berlin nach Stockholm brachte. Am Vortag war sie bei der Polizei gewesen, um sich eine Bescheinigung zu holen, daß sie nicht vorbestraft sei. Ein Polizist warnte sie, sie solle nicht den Zug, sondern das Flugzeug nehmen, denn die Juden würden trotz erteilter Ausreisegenehmigung an den Grenzen zurückgehalten. So entkam Nelly Sachs.

Chor der Geretteten

Wir Geretteten,

Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt,

An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich —

Unsere Leiber klagen noch nach Mit ihrer verstümmelten Musik Wir Geretteten,

Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht

Vor uns in der blauen Luft —

Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut.

Wir Geretteten,

Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.

Unser Gestirn ist vergraben im Staub.

Wir Geretteten

Bitten euch:

Zeigt uns langsam eure Sonne.

Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.

Laßt uns das Leben leise wieder lernen.

Es könnte sonst eines Vogels Lied, Das Füllen des Eimers am Brunnen Unseren schlecht versiegelten

Schmerz aufbrechen lassen Und uns wegschäumen — Wir bitten euch:

Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund —

Es könnte sein, es könnte sein, Daß wir zu Staub zerfallen —

Vor euren Augen zerfallen in Staub. Was hält denn unsere Webe zusammen?

Wir odemlos Gewordenen,

Deren Seele zu Ihm flöh aus der Mitternacht,

Lange bevor man unseren Leib rettete

In die Arche des Augenblicks.

Wir Geretteten,

der Abschied,

Wir drücken eure Hand, Wir erkennen euer Auge — Aber zusammen hält uns nur noch Der Abschied im Staub

Hält uns mit euch zusammen.

Nelly Sachs hat im Jahre 1921 einen kleinen Band mit dem Titel „Legenden und Erzählungen“ im Eigenverlag veröffentlicht, auf Anregung eines Freundes. Sie hat diesen Band der von ihr hochverehrten Selma Lagerlöf übersandt und von der Dichterin einen ermutigenden Brief bekommen. Aber dieses Bändchen, ganz eingebettet in populär-christlichen Vorstellungen, gehört noch nicht zu ihrem Kontinuum. Sie mußte fünfundvierzig Jahre werden, um ihren ersten Gedichtband im Druck zu sehen und ihr Dramatisches gehört zumeist einem noch höheren Lebensalter an. Ich wüßte in der großen Lyrik hiefür kein zweites Beispiel, für die sonst paradigmatischer das Gegenteil ist: der Frühvollendete. Zudem: ohne gewaltsame Entwurzelung wäre sie wohl nie aus romantischem Epigonentum geworfen worden.

Sie wuchs als umsorgtes Einzelkind in wohlhabendem Elternhaus in Berlin auf. Vater und Mutter kamen aus assimilierten Familien, denen die

Synagoge ebenso entlegen lag, wie den meisten ihrer christlichen Freunde die Kirche, und das Wort „Antisemitismus“ blieb dem Kinde in solcher wilhelminisch-großbürgerlichen Idylle unbekannt. Erst in Schweden, nur als Zwischenstation einer Flucht gemeint, deren erste Wendung sie so gerne ihrer gelieb- ‘en Selma Lagerlöf danken möchte, daß sie die Fiktion eines rettenden Briefes der greisen Dichterin ihr Leben lang aufrecht erhält, erst in Stockholm, wo sie dann die Armut festhält und eine Weiterflucht nach

Amerika verhindert, beginnt ganz ihre eigene, unverwechselbare Sprache. An den Anfang ihrer ersten Gedichtsammlung, die 1947 in Berlin erschienen ist, stellt sie, die Überlebende, die Schornsteine der Krematoriumsöfen, in denen die vergasten Leichen der Juden im Konzentrationslager verbrannt wurden:

O die Schornsteine

Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,

Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch

Durch die Luft —

Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing,

Der schwarz wurde

Oder war es ein Sonnenstrahl?

O die Schornsteine!

Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub —

Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein,

Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?

O die Wohnungen des Todes, Einladend hergerichtet,

Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war —

O ihr Finger,

Die Eingangsschwelle legend

Wie ein Messer zwischen Leben und Tod —

O ihr Schornsteine,

O ihr Finger,

Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!

In den folgenden Gedichten aber wird oft nur in Andeutungen gezeigt, daß sie Juden gelten. Olof Lagercrantz fragte: Für wen schrieb Nelly Sachs? Sie wußte es selber nicht. Die Juden and ja tot. Die Geflüchteten sind über die ganze Erde verstreut. Bei Interviews hat sie stets geantwortet, daß sie, als sie ihre ersten Gedichte schrieb, mit keinem Gedanken an eine Veröffentlichung dachte. Was sie schreibe, habe nichts mit Literatur zu tun.

Ich schrieb, um zu überleben. Ich schrieb wie in Flammen.

Zu diesem Bild, von der Dichterin selbst gewählt, gehört aber auch, daß es niemanden gab, für den sie schreiben konnte. Gershom Scholem sagt im Vorwort zu der deutschen Ausgabe seiner großen Arbeit über jüdische Mystik: Zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk ist in den Jahren der Katastrophe und Vernichtung ein Abgrund entstanden, über dessen im vollen Sinne des Wortes blutigen Emst sich hinwegtäuschen zu wollen vergeblich wäre.

Aber die Sprache der Nelly Sachs war Deutsch. Wie konnte sie ihren Nährgrund verlassen? Und schließ lich: Abraham, Isaak und Jakob sind nicht nur dem Israeliten Vorbilder, sondern für alle Menschen von Bedeutung. Indes seit dem Jahre 1948 gibt es Israel nicht nur in der Diaspora, sondern auch als Staat. Und so finden wir in der zweiten Gedichtsammlung, jener von 1949, beide: einerseits das auserwählte Volk der Bibel mit seinen Patriarchen und Propheten, anderseits den neuen Staat im Vorderen Orient. Nelly Sachs hat ihre letzte Ruhestätte auf dem jüdischen Friedhof von Haga in Stockholm gefunden. Es ist leicht, sehr leicht, sie als große jüdische Dichterin zu bezeichnen. Schwerer, aber ebenso wichtig ist es, sie als Dichterin jedes Menschen zu sehen, der deutsch spricht und denkt, sei er welchen Volkes immer. Es verdeckt nicht die Tatsache, daß Nelly Sachs Gedichte schrieb, in denen das ewige Israel und der Staat Israel ihr Blut vermischen. Aber die Stimme des heiligen Landes, die man in ihrem Gedicht hört, könnte eine Stimme für alle Länder sein; nur die Symbolik ist spezifisch. Wie in der Bibel. Aber auch die gehört uns allen.

O meine Kinder,

Der Tod ist durch eure Herzen gefahren wie durch einen Weinberg —

Malte ISRAEL! Rot an alle Wände der Erde.

Wo soll die kleine Heiligkeit hin, die noch in meinem Sande wohnt? Durch die Röhren der Abgeschiedenheit sprechen die Stimmen der Toten: leget auf den Acker die Waffen der

Rache,

damit sie leise werden —

denn auch Eisen und Korn sind Geschwister im Schoße der Erde —

Wo soll denn die kleine Heiligkeit hin,

die noch in meinem Sande wohnt? Das Kind, im Schlafe gemordet, steht auf; biegt den Baum der Jahrtausende hinab und heftet den weißen, atmenden Stern,

der einmal Israel hieß, an seine Krone.

Schnelle zurück, spricht es,

dorthin, wo Tränen Ewigkeit bedeuten.

Nelly Sachs war siebzig Jahre alt, als ihr Name in Deutschland groß wurde. Sie wurde geehrt, erhielt Preise, man nahm sie in Akademien auf. Nach großer Armut kam der Ruhm, schließlich der Nobelpreis. Und mit einem Male hatte sie: zu viele Freunde, zu viele sogenannte Sicherheit, von allem zu viel; mag sein, daß auch der allzu laute Ruf aus Deutschland für siie zur Aktualisierung der Schreckerlebnisse aus der Hitlerzeit wurde.

Wir sind so wund, daß wir zu sterben glauben, wenn die Gasse uns ein böses Wort nachwirft.

Die Gasse weiß es nicht, aber sie erträgt nicht eine solche

Belastung;

nicht gewöhnt ist sie einen Vesuv der Schmerzen auf ihr ausbrechen zu seh’n.

Die Erinnerungen an Urzeiten sind ausgetilgt bei ihr,

seitdem das Licht künstlich wurde und die Engel nur noch mit Vögeln und Blumen spielen oder im Traum eines Kindes lächeln.

Für ihren erschreckten Sinn waren auf einmal die Häscher und Henker wieder da: und nun galten sie ihr allein, ihr persönlich. Der Terror flammte mitten im Alltag auf. Es gab keine Sicherheit mehr. Ihr blieb, in einem finsteren und buchstäblichen Sinne, nur „die Flucht in die blitztapezierten Herbergen des Wahnsinns“. Sie mußte in einer Nervenheilanstalt Schutz suchen und jahrelang dort bleiben. Ihre Seelennot ist groß. Aber sie setzt inmitten des Schreckens ihre Dichtung fort, schreibt einen Zyklus, den sie „Noch feiert Tod das Leben“ nennt. Sie lebt mit kranken Frauen, die meisten sind Greisinnen; auch sie selbst wird alt: aber sie hat das Alter immer schon geliebt. Zwanzig Jahre lang lebte sie allein m’t ihrer Mutter. Zehn Jahre lang haben die beiden Frauen in nur einem Zimmer in Armut und Einsamkeit in Schweden gewohnt, immer aufeinander angewiesen. Als die Mutter in den letz-

ten Jahren an Altersschwäche litt, mußte die Tochter im Dunkeln schreiben, wenn der Anruf ihrer Sprache sie erreichte. In einer Gruppe von Gedichten zeigt sie nun das Leben der Mutter im Grenzland des Todes und folgt ihr selbst über die Schwelle des Sterbens.

Du in der Nacht mit dem Verlernen der Welt Beschäftigte,

von weit her dein Finger die Eisgrotte bemalte mit der singenden Landkarte eines verborgenen Meeres,

das sammelte in der Muschel deines Ohrs die Noten;

Brücken-Bausteine von Hier Und Dort diese haar genaue Aufgabe, deren Lösung den Sterbenden mitgegeben wird.

Der Glaube der Nelly Sachs hat keine Dogmen: Er bedarf des Ge dichts, um ins Wort zu finden, entzieht sich der diskursiven Sprache und erlaubt nur bescheidenste Hinweise: daß Leben und Tod zu gewinnen seien und dann unverlierbar sind, daß dem Dichter aufgegeben werde, nicht eine, sondern die Wirklichkeit zu schaffen, die ohne ihn nicht wisse, daß uns wohl nur Scherben angeboten werden, wir aber erkennen müssen, daß sie einer einzigen großen, zusammenhängenden Ordnung entstammen.

Da schrieb der Schreiber des Sohar und öffnte der Worte Adernetz und führte Blut von den Gestirnen ein,

die kreisten unsichtbar, und nur von Sehnsucht angezündet.

Des Alphabetes Leiche hob sich aus dem Grab,

Buchstabenengel, uraltes Kristall, mit Wassertropfen von der Schöpfung eingeschlossen,

die sangen.

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