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Gleichnis und Maskenspiel

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Der Band sammelt, heißt es im Klappentext, auf Wunsch der Dichterin all die szenischen Dichtungen, die seit 1955 entstanden sind. Es fehlen also der vorm Kriegsende begonnene Abram im Salz, das kurz nach dem Kriege verfaßte Haar, woraus schließlich die großartige Nachtwache wurde. Es fehlt nicht minder der rauschhaft in einigen Nächten nur entstandene Eli, den die Dichterin ein Mysterienspiel vom Leiden Israels hieß, worin ihre ganze Hinneigung zu den Mitteln des Tanzes, des Mimus am klarsten zum Ausdruck kommt, die für Nelly Sachs so bestimmend ist wie alles andere Unerfüllte ihres gewürgten Lebens. Es fehlt also, auf Wunsch von ihr selber, sehr viel. Es fehlen — vor allem — für jene Leser, die ihr vorausgelegtes lyrisches Werk nicht kennen, vielfach der sinnhafte Kontakt, weil sie — im eigentlichen Sinne des Wortes — nicht im Bilde sind. Denn schon wer diese „szenischen Dichtungen“ bei ihrer Bezeichnung nimmt, geht fehl. Sie sind Erweiterungen der früheren Lyrik nur im Sinne eines erweiterten Instrumentariums (Bemerkungen, „Kommentar“ und Replik werden egalitär eingesetzt), hingegen Verengungen im Segment der betrachteten Welt: zugunsten des — immer simplifizierenden — Paradigmas wird das Heuristische wie das Kosmisch-Totale der Gedichte zum Horizont hinaus fortgeschoben. Derlei aber kann beim Leser nur .gutgehen, wenn er — das ist ganz simpel gemeint — seine begrifflich-tropischen Übereinkünfte mit der Dichterin längst getroffen hat: anders kann er nicht sichtig, ihr Gebilde nicht durchsichtig werden. Sachs-Kenner wie den Finnen Bengt Holmqvist, wie den Deutschen Hellmut Geißner hat der Umstand verwundert, daß sich noch keine Bühne der Dramatik von Nelly Sachs angenommen habe. Ich meine, daß schon eine Vorbemerkung wie: Diese Szene ist auf der Netzhaut des Menschen zu suchen Hinweis genug darauf gibt, wie auch ihr Dramatisches zu realisieren ist: nämlich gewiß nicht mit verteilten Rollen, sondern nur in der Synthese durch einen Lesenden.

Erst nach den Gedichten werden die Szenischen Dichtungen ergiebig. Auch weil Nelly Sachs ja fceine Dichterin des Sprachinnenraums war, sondern eine der ständigen Kommunikation von innen und außen, ich und wir, Bild und Sinn, Bewegung und Gestalt; die Phänomene blieben nie bei sich — und damit im Unverbindlichen — sondern hatten auch, über den Eigenwert poetischer Findung hinaus, Bedeutung zu tragen: sie transportierten für sie durchaus Gemeintes; alles in ihrem Werk bedarf der Exegese des würdigenden hic et nunc; gefühliges Mitschwimmen und -schwindeln ist da nicht angängig.

Man nehme die späten szenischen Dichtungen der Nelly Sachs daher thematisch (und in Kenntnis des, Vorhergegangenen): Immer wird — auch hier — die Interdependenz von Mörder und Gemordetem, Verzicht und Opfer, Bereitschaft und Verlassenwerden, Seinsumarmung und persönlicher Einsamkeit ausgeleuchtet, ja manisch umkreist, in einer einzigen, großartigen, zupak-kenden Sprache, die sich indes, auf dem Wege zu sich selbst, vieler, reicher Dialekte begeben hat; und dieser Verlust bekümmert. Die heilende Geschlossenheit der sich selber erklärenden Gedichte ist verlassen, nicht mehr ist Tod das Ziel — Noch feiert Tod das Leben hieß der schönste Gedichtband der Nelly Sachs —, sondern das Sterben Gleichnis ohne Verheißung geworden, gebrochenes Versprechen, Scheinerfüllung, Lebensentzug bei Transzendenzverlust; letzte Lüge. Dahinter steht nicht personale Wahrheit, sondern das personifizierte Nichts. Spiel aber, wir wissen's, ist immer Maskenspiel.

VERZAUBERUNG. SPÄTE SZENISCHE DICHTUNGEN. Von Nelly Sachs. Suhrkamp-V erlag 1970. DM 6.80.

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