Klopfzeichen aus der Herzgegend

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Hans-Ulrich Treichel verpackt in seinen Roman "Menschenflug" humanistische Bildung. Sein Held zieht notwendige Zwischenbilanz.

Hans-Ulrich Treichel, der Leipziger Literaturprofessor, beweist nach mehreren erfolgreichen Büchern, dass er auch mit dem neuen Roman "Menschenflug" nicht abstürzt, nicht einmal ins Trudeln kommt. Einer, der kürzlich, und zwar gemeinsam mit Josef Haslinger, den Sammelband "Wie werde ich ein verdammt guter Schriftsteller" herausgegeben hat (Die Furche, 26. Mai 2005, S. 19), weiß, worauf es beim Schreiben ankommt.

Weiterschreiben

Der Vorgänger dieses Romans, der im Jahr 1998 erschienene "Verlorene", ein Flüchtlingsdrama, war international erfolgreich. Daran will Treichel nun anschließen, abgesehen von der Frage, ob "Menschenflug" ein Ergänzen oder Weiterschreiben des "Verlorenen" ist. Doch nicht nur dieser Roman spiegelt sich im neuen wider, auch andere Motive aus früheren Werken tauchen auf. Die Lektüre des ersten Romans ist zum Verständnis des neuen nicht erforderlich, zumal keine alten Fragestellungen offen oder unbeantwortet bleiben.

Hier erzählt Treichel mit einer gewissen Leichtigkeit von der Last der Vergangenheit, die vor allem die Eltern Stephans, des Helden im neuen Roman, ein Leben lang beeinträchtigt haben. Im Mittelpunkt steht Stephan mit seinem Berlin sowie den kürzeren und längeren Ausflügen, wobei ihn der weiteste nach Ägypten führt, wo sich trefflich ein paar Szenen mit einer rund sechzigjährigen attraktiven Archäologieprofessorin samt mühsamen Koitus konstruieren lassen. Die Liebe zu seiner Ehefrau Helen, der Himmel über dem Teltowkanal und seine hypochondrische Befindlichkeit lassen die Leserin und den Leser rund zweihundert Seiten lang bangen, ob er den befürchteten "Herzstolperer" bekommt oder nicht.

Herzstolpern

Nicht alle Wünschen müssen in Erfüllung gehen, heißt es im Roman. Die Behauptung bezieht sich natürlich nicht auf das Herz, sondern den Beruf Stephans. Der Held schafft es, als Akademischer Rat an einer Berliner Universität im Fach Deutsch für Ausländer glücklich werden. Eine Zeitlang zumindest.

Kurz vor seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag, um noch einmal die kardiologische Frage anzuschneiden, beginnen Stephan ungewohnte Ängste und Träume zu beschäftigen, außerdem spürt er Schmerzen in der Herzgegend. Und war nicht, fragt er sich bis zum Überdruss, sein einarmiger und Hunde hassender Vater mit vierundfünfzig an einem Infarkt gestorben.

Brudersuche

Wegen seiner Grübeleien entscheidet er sich zu einer einjährigen Auszeit von Ehefrau und Stiefkindern, zu einem Familiensabbatical mit eigener Klause in Form einer Steglitzer Dachwohnung. Er hat Bilanzbedarf. Zwischenbilanzbedarf. Keine Freundin.

Die Beschäftigung mit sich selbst führt ihn in die eigene Vergangenheit. Er fragt nach seiner Herkunft, seiner Familie, die aus dem Osten kam und flüchten musste. Intensiv beschäftigt ihn die Frage, was es mit dem Sohn, den die Eltern während der Flucht zurücklassen mussten, auf sich hat.

Er will ergründen, weshalb die jahrelange Suche nach seinem Bruder vergeblich war. Und sucht dann selbst mit Gründlichkeit. Als er ihm endlich gegenüberzustehen glaubt, weiß er, dass er für eine reale Konfrontation eher nicht geeignet ist.

Mehr sei weder verraten noch angedeutet. Spannend ist, wie der Erzähler die Begegnung mit dem Bruder und das nervige Herzstolpern auflöst. Ergebnis und Erklärung seien jedoch dem Selbststudium vorbehalten.

Hans-Ulrich Treichel hat in den "Menschenflug" seine gute humanistische Bildung verpackt. Der Erzählton ist angenehm und ermöglicht über weite Passagen ein entspanntes Gleiten über die Zeilen. An einigen Stellen hat man, was bei bundesdeutschen Autoren kaum vorkommt, das Gefühl, man lese zeitgenössische österreichische Prosa. Der Tonfall wird stellenweise austriazistisch, was nicht unbedingt das Schlechteste sein soll.

Menschenflug

Roman von Hans-Ulrich Treichel

Suhrkamp Verlag

Frankfurt am Main 2005

233 Seiten, geb., e 17,80

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