Bettdecke - © Foto: Pixabay

Kurz vor dem Augenöffnen

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Paul Brodowsky hat Talent, nachzulesen in seinen Erzählungen.

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Paul Brodowsky hat Talent, nachzulesen in seinen Erzählungen.

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Alle liegen sie irgendeinmal neben ihm, dem unwiderstehlichen Ich-Erzähler, Irina, Judith, Julika, Nora, Rachel und andere, halb zugedeckt im schlafwarmen Bett. Die eine "mit leicht verklebten Wimpern", die andere "mit einer kleinen Narbe unter dem rechten Schlüsselbein". Es kann auch vorkommen, dass der erzählende Don Juan mit ihr und neben einer Flasche Rotwein in der Polsterung versinkt, "auf den tiefsten Punkt rutscht", weil "das Sofa alt" ist. Schon ein wenig Phantasie lässt ahnen, wo die Hände liegen oder worüber sie streifen. "Ich spüre die Kraft in ihren langen, schmalen Fingern." Er spürt sie in diesen sechs angedeuteten und gleichzeitig aufgeklärten Macho-Stories der Blinden Fotografin.

Interessanter als der Egoist sind aber allemal die Frauen, um die es wirklich geht: Die Fotografin, die ihre Sehkraft verliert, und ihren Freund beauftragt, ihr zu beschreiben, was er sieht. Die Freundin des jungen Komponisten, die ihn mit seinem Konkurrenten betrügt. Natürlich gibt es in der Literatur mittlerweile die gestalkte Frau. In der Blinden Fotografin kommt sie vor.

Kippmomente

Paul Brodowsky erzählt keine linearen Geschichten mit oder ohne Happy End. Er späht die Kippmomente in Beziehungen auf, die Sekundenbruchteile kurz vor dem Augenaufreißen, die Zehntelsekunde vor der Entscheidung oder Verzweiflung. Augenblicke, die in der deutschsprachigen Literatur durchaus neu sind. Stefan Zweig mit seinen großartigen Sternstunden lässt, um keinen falschen Eindruck zu erwecken, nicht einmal grüßen. Im übrigen ist Paul Brodowsky, sein Namen mag es verheißen, alles andere als konventionell.

Der siebenundzwanzigjährige Brodowsky, einer der jüngsten und talentvollsten deutschen Autoren, kann erzählen wie ein fertiger Schriftsteller. Er reiht Bild an Bild und wird dadurch uneingeschränkt präzise, trotzdem entsteht kein großes ganzes Bild. Es sind eher "großformatige Abzüge". Der Leser gerät mit großer Geschwindigkeit in die Erzählung, einmal im Text bleibt zwar die Bewegung, wirkliche Spannung entsteht jedoch nicht, was den Miniaturen aber nicht schadet, zumal man in diesen Texten nicht Fiktionen erleben will, sondern ganz einfach Sprache. Deutsch in seinem feinsten Gebrauch.

Liebe mit Abstand

Wer große Sinnlichkeit erwartet, wird vielleicht enttäuscht werden. Die Erotik geschieht in diesem Buch mit Distanz, mit großer Distanz. Auch die Liebe hat Abstand zu halten, "schließlich soll sie sich nicht in dich verlieben", heißt es, "ich will nur wissen, wie sie küsst, ob zart, mit weichen Lippen oder drängend".

Die Erzählungen sind so abwechslungsreich wie die Orte, an denen sie spielen, nämlich zwischen Berlin, Hanoi, Hongkong und anderen Metropolen. Apropos Städte: Gesagt sei, dass dieser Schriftsteller ein Studium für Kreatives Schreiben absolviert hat, nicht an Josef Haslingers Leipziger Literaturinstitut, sondern an der Universität Hildesheim, die langsam und sicher zur zweiten bundesdeutschen Adresse für akademische Schreibausbildung wird.

Die blinde Fotografin

Erzählungen von Paul Brodowsky

Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2007

128 Seiten, geb., € 14,80

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