Lakonische Meisterwerke

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Berichterstattung aus einer anderen Welt. Rudyard Kipling und Indien.

Vor 99 Jahren erhielt Rudyard Kipling als erster Brite den Literaturnobelpreis. Vor 70 Jahren starb er (geb. 1865). 11 Jahre später erlangte Indien seine Freiheit. Da war aus dem einstigen Literaturwunderknaben längst ein Schriftsteller geworden, dessen Verherrlichung urbritischer Tugenden wie Disziplin und Prinzipientreue nicht mehr hoch geschätzt wurde. Das britische Weltreich bröckelte, und kritische Schriftsteller wie George Orwell ("Shooting an Elephant") oder E. M. Forster ("A Passage to India") hielten ihren Landsleuten einen düsteren Spiegel vor, in dem sich die hässlichen Züge des Imperialismus abzeichneten.

Sinnlicher Erzähler

In der Manesse Bibliothek der Weltliteratur erinnert ein eleganter kleiner Band an die literarisch ertragreichste Zeit des in Bombay geborenen Kipling, der nach unglücklicher Internatszeit in England mit 17 Jahren wieder eintauchen durfte in die farbenprächtige Welt Indiens. Als Reporter reiste er auf den staubigen Straßen des Subkontinents, sprach fließend Hindustani und Urdu, und füllte, getragen von jugendlicher Neugier, in sieben Jahren sechs Bände mit Kurzgeschichten, seiner Stärke. Das Manesse-Buch bietet daraus eine Auswahl, und man staunt: Kipling ist ein hinreißender, sinnlicher Erzähler, ein Indien-Kenner, der nie zum mystischen Schwärmer mutierte, aber auch in dieser frühen Phase nicht von "the white man's burden", der Bürde des weißen Mannes, faselte. Diese Entwicklung hin zum geschmähten Imperialisten nahm er erst in seinen Jahren in Südafrika. Ihn deswegen in Bausch und Bogen abzukanzeln, ist ungerechtfertigt und verstellt den Blick auf lakonische Meisterwerke. Wer heute noch die Moralkeule gegen Kipling schwingt, handelt nach dem indischen Sprichwort: "Wer ist blind? - Der eine andere Welt nicht sehen kann."

Inder und Briten

Ihm war die Besonderheit der anglo-indischen Beziehung klar: Die Stärke Indiens gegenüber allen früheren Eindringlingen versagte gegenüber den Briten. Diese ließen sich nicht vereinnahmen, aufsaugen, und so war der "clash of civilisations" unausweichlich. Das belegt die klassische Erzählung "Das Wunder des Purun Bhagat", in der vom Premierminister eines indischen Fürstentums erzählt wird, der wunderbar mit den Briten umgehen kann, von ihnen hoch geehrt wird, und am Ende seines Lebens alles Fremde abstreift, zum Wanderpilger wird und die Bewohner eines Himalaya-Dorfes eines Nachts aus dem Schlaf reißt, weil das seltsame Verhalten seiner Freunde, der Tiere, ihm verrät, dass ein Bergsturz bevorsteht. Nicht nur konnten die Inder die Briten nicht wirklich verstehen, auch die Briten erschraken vor der anderen Mentalität, besonders wenn sie zu indischen Frauen in nähere Beziehung traten. Kipling schilderte das Schicksal der Mischlinge, der Eisenbahnbauer mit ihren Heerscharen einheimischer Arbeiter, die mit 14.000 Kilometern Bahnlinien das Land erschlossen oder infiltrierten, je nach Standpunkt. Er beschrieb eindringlich, wie der Opiumgenuss die Weißen zerstörte, während er den Asiaten kaum etwas anhaben konnte.

Der Kolonialismus gehört der Vergangenheit an, doch die versunkene Welt Britisch-Indiens ist nirgendwo lebendiger als in den welthaltigen, sinnenbetörenden und auch abgründigen Erzählungen Kiplings.

Indische Erzählungen

Von Rudyard Kipling

Aus dem Englischen von Irma Wehrli

Manesse Bibliothek der Weltliteratur Zürich, 2006

254 Seiten, geb., e 18,40

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