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Oper a la Chagall

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Eine vereinfachende Uberschrift, gewiß, die aber anderseits die vielsichtigen Dinge auf ein Sinnbild zurückführen soll. Marc Chagall also: Zu denken ist hier an seine Lithographie „Über der Stadt“. Ein Liebespaar, eng umschlungen, schwebt über den Dächern eines Landstädtchens — Symbol verzückten Traumes, Symbol darüber hinaus aber auch der Spannung zwischen Übersinnlichkeit und erdgebundener Wirklichkeit, schließlich zwischen theosophischer Mystik und praktischer, nach materiellem Besitz strebender Vernunft: Doppelseitigkeiten des Menschen, Seelenwanderung und Erlösung, die nicht mehr von dieser Welt ist. Wobei wir also nun beim Dybuk und so beim Kernproblem von Karl Heinz Füssls Dreiakter wären. Chanan und Lea sind quasi die beiden Liebenden auf Chagalls Lithographie. Reb Sender, Leas Vater, ist dagegen der Prototyp des „Besitzstand Wahrenden“, und in den scheinbar friedlichen Häuschen auf Chagalls Bild nistet ja möglicherweise dieses Menschlich-Allzu-menischliche. Der Teufelskreis von Schuld und Sühne: Sender hatte seinem inzwischen verstorbenen Freund Nissan versprochen, daß Lea den Chanan, Nissans Sohn, ehelichen sollte. Chanan und Lea lieben sich, aber Sender erwählt einen reicheren Mann zum Gatten seiner Tochter. Vor Verzweiflung darüber bricht Chanan tot zusammen. Die Seele Chanans greift nun von Lea Besitz; auf der Hochzeit Leas mit Manasse, den Sender ausgewählt hatte, kommt es zur Katastrophe: mitten im Trauungsakt verfällt Lea, bedrängt von dämonischen Gesichten, in den Taumel des Wahnsinns. Der Dybuk hat sie ganz in seinem eisernen Griff. Als der greise Rabbiner nach weiteren Versuchen, Lea aus dem Bann des Dybuk zu lösen, fast am Ziel zu sein glaubt, bleibt ihm der Erfolg eben doch deshalb versagt, weil er ihn von seiner fast fixen „menschlichen“ Idee abhängig macht, Lea mit Manasse zu verehelichen.

Wie hat sich nun Korl Heinz Füssl mit diesem symbolbeladenen Textwurf des „Dybuk“ (nach dem gleichnamigen Schauspiel von An-Ski) kompositorisch auseinandergesetzt? Ist das Ganze eine Oper geworden — wo doch bei solchem Libretto ständig die Gefahr lauert, die Grenzen zum Oratorium hin mehr als einmal zu überschreiten? Da spricht es doch sehr für den Autor, daß ihm tatsächlich ein Musikdrama gelungen ist. Der zweite und der dritte Akt vor allem vibrieren wie echtes Theater. Die Musik Füssls ist stark von Schönbergs Reihentechnik geprägt, aber da und dort neoklassisch beruhigt. Was sehr für Füssl einnimmt, das ist ein feinnerviges Gespür für die vokale Linie, die in stark berührender, ja wunderbarer Poesie aufblühen kann. Im zweiten und dritten Akt bestechen dann die Klangfarben durch Ausdruckskraft, Vielfalt und in phantasdevoller Kombination. Kompositionstechnisch gibt es eine Menge an exklusiven Dingen zu bestaunen — bis zu einem gewissen Grad ist Füssls Klang eben auch „Augenmusik“. Die Karlsruher Uraufführung des „Dybuk“ besaß hohes Niveau. Arthur Grüber hob das Werk mit Umsicht, Energie und' musikalischem Feingefühl erfolgreich aus der Taufe. Als Lea glänzte Viviana Thomas in ihrer bislang wahrscheinlich besten Leistung auf den Brettern des Bad-nischen Staatstheaters Karlsruhe. Andreas Meyer-Hanno paßte seine Regie vorbildlich den Intentionen der Partitur an. In Hainer Hills Bühnenbild und Kostümen spiegelt sich die Atmosphäre von Chagalls Farbentraum; Peter Köhlers Choreographie gab Bewegung von' Volk, Musikanten und Spielleuten Raum zu aller Entfaltung auf der Bühne.

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