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Organisationsformen der Macht

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POLITIK UND VERBRECHEN. Von Hans Magnus Enzensberger. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main. 400 Seiten. Preis 19.80 DM.

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POLITIK UND VERBRECHEN. Von Hans Magnus Enzensberger. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main. 400 Seiten. Preis 19.80 DM.

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Das Buch ist eine Zusammenstellung von sechs Aufsätzen, die der deutsche Lyriker und Essayist Hans Magnus Enzensberger für verschiedene Rundfunksender geschrieben hat. Sie heißen: „Rafael Trujillo. Bildnis eines Landesvaters“, „Chicago-Ballade“, „Modell einer terroristischen Gesellschaft“, „Pupetta oder das Ende der Neuen Camorra“, „Wilma Montesi. Ein Leben nach dem Tode“, „Der arglose Deserteur. Rekonstruktion einer Hinrichtung“, „Die Träumer des Absoluten. Erster Teil: Traktat und Bombe, zweiter Teil: Die schönen Seelen des Terrors“. Durch die Einrahmung mit grundsätzlichen Auseinandersetzungen zum Thema des Gesamttitels gewinnen die Aufsätze, die ansonsten in den Bereich der gehobenen Reportage gehören, einen scharfen Brennpunkt und den Charakter exemplarischer Begebenheiten. Der Brennpunkt ist die Notwendigkeit der Verflechtung von Politik und Verbrechen, eine Notwendigkeit, die in der Geschichte immer wieder belegt wird. Recht und Gesetz sind nichts als pragmatischer Ausdruck der Macht, die ein Teil der Gesellschaft über den anderen hat. Rafael Trujillo, zunächst Spitzel und Gehilfe der „Ledernacken“, der amerikanischen Okkupationstruppen in der Dominikanischen Republik, macht ein Land von drei Millionen Einwohnern zu seinem persönlichen Eigentum, unter Wahrung aller Prozeduren, die an der Oberfläche die Demokratie auszeichnen. Er läßt alle vier Jahre Wahlen durchführen, sein Parlament verabschiedet mehr Gesetze als jedes andere der Welt.Oder: Asew, einer der Köpfe der russischen Anarchisten, die unter Aufopferung ihres eigenen Lebens systematisch die reaktionären Persönlichkeiten der zaristischen Regierung, bis zum Zaren selbst, mit Bomben und Sprengstoff eliminieren, ist zugleich ein Agent der Ochrana, jener Geheimpolizei, die der Zar zu seinem Schutz konstituiert hat. Der agent provocateur ist zugleich der brilliante Planer jener Anschläge, die er aufdecken soll. Hier wird die Spiegelbildbeziehung yon Macht und Verbrechen vollends deutlich.

Enzensberger bringt seine Thesen in den Rahmenessays „Reflexionen vor einem Glaskasten“ und „Zur Theorie des Verrats“ mit sorgfältig ausgearbeiteter Argumentation vor, die sich vor allem auf Arbeiten psychoanalytischer und anthropologischer Forschung stützt. Die Reportagen selbst sind auf der genauen Kenntnis des vorhandenen Dokumentenmaterials aufgebaut. Ihr Thema, das Verbrechen und seine Verflechtung mit der Politik, gehört zur täglichen Zeitungskost. In diesem Band wird es in einem klaren, schönen Deutsch vorgetragen, das in seinem Impetus und seiner Struktur etwa an Egon Erwin Kisch erinnert. Die Lektüre fasziniert bis zu jenem Grad, wo man über das Vergnügen am Vortrag fast das Anliegen vergißt. Das Anliegen nämlich ist: sich sämtliches Wissen zunutze zu machen, um Vorkommnisse gleicher Art, und im weit größerem als die behandelten, im globalen Ausmaß, zu verhindern.

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