Wie man heute Böll folgen kann

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Ein ganzes Jahr stehen die Videowalks auf der Website des WDR zum Download bereit. Die Reise ist -allerdings mit halbem Vergnügen -auch vom Sofa jedweder Stadt aus zu unternehmen. Mitte: Bölls Geburtshaus 1917 und heute. Unten: Samaya Böll, die Enkelin

"Damit virtuelle, oder in dem Fall erweiterte, Realität funktionieren kann, braucht sie Interaktivität, das Gefühl von Präsenz und vor allem eine starke Geschichte."

Autos sind wenige unterwegs an diesem kalten Sonntagmorgen. Ich stehe mitten auf einer Verkehrsinsel, in der Kölner Südstadt. Das Smartphone habe ich in der Hand, die Kopfhörer in den Ohren. "Sei vorsichtig", warnt mich mein Handy, als ich die Straße überquere, und: "Ich hoffe es ist ok, wenn wir uns duzen". Wolfgang Niedecken ist es, der aus meinem Smartphone spricht, er wird mich so auf einem "Augmented Reality Walk" durch Köln begleiten. Es ist das Köln Heinrich Bölls, dem Niedecken freundschaftlich verbunden war.

Anlässlich des 100. Geburtstags von Heinrich Böll lädt der WDR zu einer besonderen Entdeckungsreise: Vier aufwendig produzierte Videowalks ermöglichen einen sehr persönlichen Blick auf Werk, Leben und Stadt des Nobelpreisträgers. Die Drehbücher hat die Theater-und Hörspielregisseurin Philine Velhagen geschrieben, Regisseur Terry Albrecht hat die passenden Böll-Texte dazu gesucht. Die Route für die Spaziergänge haben sie gemeinsam zusammengestellt. Einer davon führt auch ins Funkhaus am Walraffplatz, dem Böll mit "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen" ein satirisches Denkmal gesetzt hat.

Das zerstörte Köln

Ich stehe vor dem Haus in der Teutoburger Straße 26. Meine Umgebung, durch meinen Handy-Screen gesehen, verwandelt sich: Es ist der 21. Dezember 1917. Dem Schreiner Viktor Böll, "der als Landsturmmann Brückenwache schob", wird hier im ersten Stock das achte Kind geboren, "während er den Krieg verfluchte und den kaiserlichen Narren."

Niedecken lotst mich weiter, durch die Gassen, die "der Hein" vor über 90 Jahren dann entlang gelaufen ist und über die Wege, die er zur Schule hätte gehen sollen. Stattdessen, so erfahre ich, hat er meistens die "Straßenschule" besucht, wie Böll es beschrieb. Ob ihn diese Straßenschule zu dem gemacht hat, was er später geworden ist?

Niedeckens Erzählung wird durch alte Tonspuren erweitert und durch visuelle Zeitdokumente ergänzt. Ich sehe die Straßen, wie sie einst waren und wie sie heute sind. Ich wandere durch die Ruinen des zerstörten Köln und gehe doch nur durch eine winterliche Allee im Heute. Die Kirche links von mir liegt in Trümmern, nur der Turm steht noch halb. "Als wir Köln wieder sahen, weinten wir", sagt Heinrich Böll zu mir. Ich hebe den Blick über den Rand meines Smartphones und sehe die wiederaufgebauten Gebäude. Viele Jahre, ein Augenblick.

Augmented Reality als Kunstform

Bölls Romane, Autobiografisches und theoretische Überlegungen werden während des Spaziergangs assoziativ zu den Schauplätzen eingespielt. Warnhinweise machen dabei immer wieder auf den Straßenverkehr aufmerksam. Auch die Geschichte zwingt zum Innehalten: Es ist gar nicht so leicht, allem gleichzeitig zu folgen.

Velhagen und Albrecht haben mit #böllfolgen eine Kunstform geschaffen, die an dokumentarisches Theater erinnert, aber durch das Digitale und nicht zuletzt dank des 3-D-Surround-Tons weit darüber hinaus reicht. Immer wieder wird die Erzählung unterbrochen, Menschen aus dem Jetzt tauchen auf dem Handyscreen auf, die in Wirklichkeit aber gar nicht da sind. So wird man, im Portal eines kleinen Theaters stehend, Zeuge von Proben zu "Katharina Blum", während ausgesuchte Audiospuren aus alten Tagen Böll kommentieren lassen. Die ständige Überlagerung von Realität und Fiktion ermüdet zwar - ist aber gleichzeitig unglaublich reizvoll.

Berührend wird es, als plötzlich Samay Böll vor einem steht, eine Enkelin. Mit großen, eindrucksvollen Augen schaut sie direkt in die Kamera. Zu hören ist Großvater Böll: "Wir kommen weit her liebes Kind /und müssen weit gehen / keine Angst /alle sind bei Dir (...)" Böll schreibt das Gedicht am 7. Mai 1985 zu Samays siebten Geburtstag. Kurz darauf stirbt er, der Nobelpreisträger, der mit seinen Enkelkindern "Grrr, hier kommt der Gelbzahnhai" gespielt hat. Samay wird später auch über Großmutter Böll sprechen, ohne die vieles in der Schrifstellerkarriere unmöglich gewesen wäre, auch der Nobelpreis.

Damit virtuelle, oder in dem Fall erweiterte, Realität funktionieren kann, braucht sie Interaktivität, das Gefühl von Präsenz und vor allem eine starke Geschichte. Albrecht und Velhagen haben nicht nur die starke Geschichte gefunden.

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