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Brennesseln und Blumen für Böll

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HEINRICH BOLL. Eine Studie von Günter Wirth. Union-Verlag, Berlin. 236 Selten. IN SACHEN BÖLL. Ansichten und Einsichten. Herausgegeben von Marcel Reich- Kaūleki. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin. 348 Selten. Brosch. DM 12.—.

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HEINRICH BOLL. Eine Studie von Günter Wirth. Union-Verlag, Berlin. 236 Selten. IN SACHEN BÖLL. Ansichten und Einsichten. Herausgegeben von Marcel Reich- Kaūleki. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin. 348 Selten. Brosch. DM 12.—.

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Der 50. Geburtstag Heinrich Böll: — im Dezember 1967 — hat den Stol der Sekundärliteratur vermehrt Deutschlands verständlichste! Schriftsteller von Rang erhält durci seine Interpreten, was er sich selb® mit Kunst vom Leibe hielt: das Komplizierte der intellektuellen unc politischen Snobs, denen das Direkt« in der Literatur schon lange widei den Strich geht. Aber Laudatio mut sein. Wer Blumen nicht mag, den kommt man mit Brennesseln. Odei mit dem tiefgefrorenen Lorbeer aus dem Hain der Gefühlsängste. So bitter rächt sich ein Volk, das seine Dichter und Denker entweder ignoriert oder anbetet, mit Hilfe seinei Publizisten an einem wehrlosen Jubilar. Die krampfhafte Anbiederung spricht aus jeder Zeile.

Denn Heinrich Böll ist anders Selbst die, die noch anderer sind, finden sich damit nicht ab. Es scheint, als plage sie eine Art Eifersucht auf Bölls Andersartigkeit. Die Bewunderung der Wohlerzogenen für den schlimmen Buben spielt mit.

Liest man einige der vorliegenden Interpretationen, so erinnert man sich an mittelalterliche Darstellungen des Jüngsten Gerichts. Es gibt da Details, die den Kampf eines Engels und eines Teufels um einzelne Menschen zeigen. Mit Verbissenheit zerren die geistigen Mächte jeweils in ihrer Richtung an der armen Seele, der diese Grenzsituation zur höchsten Pein gereicht. Die Maler statteten die Szene öfter mit Sadismus und Schadenfreude aus. Ist Heinrich Böll heute schon solch eine arme Seele? Einer seiner Retter kommt aus dem östlichen Deutschland, ein respektabler Marxochrist mit allem pflichtschuldigstem Haß wider Bonn und die Bürger in der Brust. Der rote Engel heißt Günter Wirth und macht sich flink ans Werk, Böll über die Mauer zu zerren. Er erkennt im Werke Bölls nur noch einige wenige Schönheitsfehler, so ein Verfallensein an die spätbürgerliche Irrationalität. Aber darüber ließe sich wahrscheinlich noch reden.

Es ist frappierend, wie lückenlos Bölls Werke auf weiten Strecken in der .gesellschaftlichen Dialektik Günter Wirths aufgehen. Die Methode paßt wie der Schlüssel ins Schloß. Für den ängstlichen Zeitgenossen, der seit Jahren mit den Vorurteilen vom Linkskatholiken und Krypto- kommunisten Böll gefüttert wird, tut sich alsbald die frisierte Perspektive auf.

Was Kritik und Freiheit bedeuten, weiß indes kaum jemand besser als Heinrich Böll. Opposition kann Heimat sein. Zumal in Köln. Das Establishment duldet seine Hofnarren. Denn das Establishment ist kein Regime. Das Spektrum, unter dem Marcel Reich-Ranicki mit einem ganzen Team von Literaten, Soziologen, Politologen und Philosophen die Erscheinung Heinrich Böll sieht, ist wesentlich vielfältiger. Der Titel wäre einer eigenen Reflexion wert. In Sachen Böll. War dem Herausgeber nicht bekannt, was Böll mit der „Sache“! meint?

Die Analysen fördern bei aller Freude und Fruchtbarkeit am Detail nichts grundsätzliches Neues zutage. Daß Heinrich Böll dem Rheinland um Köln verhaftet ist, das ist ebenso bekannt wie daß sein Katholizismus dem großen Kirchenapparat feind ist. Die Symbolwertigkeit des Brotes, des Lammes und des Hüters wird unterstrichen. Ist denn das alles so ein ungeheures und unfaßbares Geheimnis? Oder liegt der Publikumserfolg nicht vielmehr darin, daß sich ein Dichter getraut hat, manchmal sein Herz auf der Zunge zu tragen? Es darf ja immerhin vermerkt werden, daß Heinrich Böll bei aller Kritik und Unbequemlichkeit auf dem Boden der katholischen Kirche steht. Ob ausgerechnet Rudolf Augstein berufen ist, darüber zu referieren, sei dahingestellt. Jedenfalls erhellt allein aus diesem Beispiel die ganze Subjektivität des Herausgebers. Die Front wird künstlich hochgespielt. Katholische Publizisten oder Wissenschaftler, die immerhin aufzuzeigen wüßten, in welcher Tradition (!) inperhalb der Kirche auch ein Heinrich Böll steht, fehlen in diesem Buch. Kann etwa nicht sein, was nicht sein darf? Viel ist die Rede von Gesellschaft, aber wenig von Ehe und Familie. Als ob es da keinen Zusammenhang gäbe! Und als ob nicht gerade dieser Zusammenhang bei Heinrich Böll in einem exemplarischen Maße zum Ereignis geworden wäre!

Böll ist doch allemal noch besser als seine Interpreten. Das wird dem Leser nach der Lektüre dieser Ansichten und Einsichten wieder einmal bewußt. Und auch dies, wenn man bedenkt, daß sich Böll ausgerechnet für Joseph Roth engagiert, daß er einen melancholischen Humor besitzt, daß ihm Katholizismus Gefühlswert ist, daß er einen ausgeprägten Sinn für kleine Verhältnisse hat — daß also dieser Schriftsteller längst innerlich reif für eine Begegnung mit Österreich ist.

Das steht nicht „In Sachen Böll“. Weil es nicht links liegt. Aber es soll bei dieser Gelegenheit gesagt werden.

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