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In Sachen Clemens Brentano und Luise Hensel

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Clemens Brentano und Luise Hensel. Mit bisher ungedruckten Briefen. Von Hubert Schiel. Paul Pattloch, Aschaffenburg. 152 Seiten

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Clemens Brentano und Luise Hensel. Mit bisher ungedruckten Briefen. Von Hubert Schiel. Paul Pattloch, Aschaffenburg. 152 Seiten

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In jeder beliebigen Biographie über Clemens Brentano, in jedem Literatur- und Konversationslexikon und in jedem Buch über Lebensläufe der Romantiker ist nachzulesen, daß es ein 18jähriges Mädchen gewesen sei, das den 3 8jährigen Dichter wieder zur Kirche zurückgebracht habe, die Pastorentochter Luise Hensel. Denn so heißt es: „Brentano lernte sie im September 1816 kennen. Sie erschien ihm wie ein Engel in der Wüste, und da er mit sich und seinem Leben unzufrieden war, fand er es angemessen, ihr sein Herz auszuschütten. Sie hatte Mitleid mit ihm, konnte aber seine Liebe nicht erwidern, und da sie selbst schon auf dem Weg zur Konversion war, riet sie Brentano, mit der Kirche wieder seinen Frieden zu machen und zu einem Beichtvater zu gehen. Was denn auch geschah. Er verzichtete auf eine dritte Ehe, mußte auch, da seine zweite Ehe geschieden worden war, ging bald darnach nach Dülmen zur stigmatisierten Anna Kathe- rina Emmerik und wurde von da an ein frommer und tiefgläubiger Mensch, was er mindestens fünfzehn Jahre lang nicht mehr gewesen war."

Wie gesagt, das kann man überall nachlesen, und wer sich für Quellen interessiert, dem kann gesagt werden, daß diese Darstellung auf eine eigenhändige Niederschrift Luise Hensels zurückgeht, auf „Bruchstücke aus dem äußeren und inneren Leben des seligen Clemens Brentano“, die um 1853 entstanden sein müssen und sich im Nachlaß der Emilie Brentano vorgefunden haben. Wer hätte darum je gewagt, daran zu zweifeln?

Niemand, bis vor einigen Jahren Hubert Schiel einige bisher noch unbekannte und ungedruckte Briefe in die Hand bekam; einerseits Briefe der Luise Hensel an Emilie Brentano und anderseits den Briefwechsel zwischen Luise Hensel und Clemens Brentano aus der ersten Zeit der Bekanntschaft. Daraus ging nun mit aller Deutlichkeit hervor, daß sich Verschiedenes anders verhalten hat, als Luise Hensel es vierzig Jahre später darzustellen liebte: ja. daß ihre Darstellung ein Gemisch aus Irrtum und Täuschung war und eigentlich nichts anderes als eine Zwecklegende.

Es ist hier nicht möglich, den neuen Befund mit allen Details vorzulegen; es kann aber zusammenfassend gesagt werden, daß erstens Luise Hensel damals noch keineswegs auf dem Weg zur Konversion war, sondern erst vom orthodoxen Lutheranertum zum Pietismus hinübergewechselt hatte, einen leisen Versuch Brentanos, sie zu katholisieren. aber schroff zurückwies. Zweitens: Brentano war schon vor der Bekanntschaft mit Luise Hensel auf dem Weg zurück gewesen, die Liebe zu der jungen Pastorentochter aber ließ ihn wieder zögern. Er wollte sie heiraten, und um das möglich zu machen, trug er sich sogar kurze Zeit mit der Absicht, zum Protestantismus überzutreten, denn als Katholik hätte er nicht mehr heiraten können. Drittens: Brentano liebte Luise Hensel und wurde auch von ihr wiedergeliebt. Mit Vorsicht allerdings. Er genoß einen ziemlich schlechten Ruf in Frauensachen, und die etwas steife märkische Jungfrau war sehr auf ihren guten Ruf bedacht. Sie schwankte zwischen Anziehung und Abwehr, und als einer der Herren Gerlach auftrat, fühlte sie sich zu diesem mehr hingezogen als zu dem launischen und unzuverlässigen Dichter. Viertens: Als Brentano dann wieder zu seinem angestammten Glauben zurückgekehrt war, machte er sich daran, auch Luise Hensel zu bekehren. Das gelang ihm, zum Teil mit Hilfe der Anna Katharina Emmerik, und 1818 konvertierte sie in Berlin. Von da an kamen die beiden langsam auseinander. Später aber empfand Luise Hensel ihre Liebesepisode mit Brentano peinlich und zeigte sich eifrig bemüht, alles zu verwischen, was darauf hindeuten könnte. Sie verweigerte die Herausgabe gewisser Briefe, erzwang für andere Streichungen (sie erschienen dann nur in stark gekürzter und korrumpierter Form) und brachte es schließlich fertig, den wirklichen Sachverhalt auf den Kopf zu stellen. Das Resultat ist in allen Büchern über Brentano nachzulesen. Die Legende hatte ihren Zweck erfüllt. Luise Hensel erschien als die Retterin Brentanos, als sein Engel in der Wüste. S i e hatte seine Konversion veranlaßt, während e r an ihrer Konversion keinen Anteil hatte, usw.

Nun, derlei ist schon mehr als einmal vorgekommen, aber in diesem Fall mußten hundert Jahre vergehen, bis man dahinter kam, daß eine bereits siebzig Jahre alt gewordene Jungfer es noch immer für nötig gefunden hatte, sich zu zieren und zu leugnen, daß sie einmal einen Clemens Brentano gern gehabt hatte, daß ihre Jesusminne, Gott sei’s geklagt, damals auch noch ein wenig mit irdischem Eros gemischt gewesen war, im Alter von 18 Jahren... Denn es steckt nichts anderes dahinter als eine spätbiedermeierliche Eingeschrumpftheit und anderseits das kuriose Bedürfnis, auf keinen Fall zuzugeben, daß man den gewissen Weg nicht ganz allein gefunden habe.

Man wird die Hefte also nun zu korrigieren haben und Hubert Schiel sehr dankbar dafür sein, daß er es unternommen hat, eine der vielen Literaturlegenden als das zu entlarven, was sie ja meistens sind, erbaulich-unerbauliehe Geschichten mit fragwürdigem Hintergrund.

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