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DEUTSCHER OHNE DEUTSCHLAND

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Blickten von der Höhe ihres Pestsöllers eines gar nicht mehr elfenbeinenen Turms Erfolgautoren auf die Hunderttausende im literarischen Tiefland nach literarischer Massenabfütterung schnappenden Abnehmer von Produkten hinab, die, im fürchterlichsten Neuhochundeutsch ausgedrückt, ankommen oder auch ansprechen, dann hätte man in der Schar dieser auf luftiger Höhe Angekommenen und die Niedrigen, doch über die ihnen zugemutete Geisteskost gar nicht Beleidigten mit Hilfe zahlloser Lautverstärker Ansprechenden vergebens Bernard v. Brentano gesucht. Und doch war er einer der wenigen großen Erzähler, vielleicht der bedeutendste Kritiker und einer der im deutschen Sprachraum schätzenswertesten Vertreter eines echten Humanismus, ein seltsam in die Gegenwart hineinragendes Vermächtnis der Goethe-Zeit, ein großer Deutscher, der nie aufgehört hatte, Europäer zu sein, ein großer Europäer, der all dem zum Trotz, das ihm vom Dritten Reich und dann von den Hyänen des Kampfes gegen ebendieses monströse Gebilde angetan worden war, ein echter und wahrer Deutscher der besten Art geblieben war, dem gerade die erbittertsten Widersacher, nicht deutscher Art, sondern deutscher Entartung schon früh Gerechtigkeit gezollt hatten.

Peter Anton Brentano di Tremezzo, Sproß eines lombardischen Uradelsgeschlechts aus der paradiesischen Landschaft um den Comosee, hat den Frankfurter Ast seines weitverzweigten, schon seit dem 17. Jahrhundert in fremden Militärdiensten oder als Handelsherren ins Ausland gewanderten Geschlechtes begründet. Er war der Nachfahre einer auf lombardisohen Uradel, zumal die eigene Familie der Brentanos, um uns der biologischen Terminologie zu bedienen, „hochgezüchteten“ Aszendenz. Unter seinen acht Urgroßeltern waren drei Brentano. Dazu treten, bis zu den sechzehn Ahnen, noch eine weitere Brentano, drei Mainoni, zwei Mattoni, zwei Stoppani, zwei Raineri, alles aus dem gleichen Familienkreis und seinerseits untereinander eng verwandt. Dieser reinstblütige norditalienische adelige Kaufherr, der von seiner doppelten Eigenschaft den geschicktesten Gebrauch macht, heiratet eine Dame, die einst berühmte Maximiliane von La Roche, die ihres Namens ungeachtet, zu drei Vierteln deutschen Blutes ist und die man ständisch wie auch sonst schwer einordnen kann. Ihr Vaterstamm führt über ihren Erzeuger, den hohen kurtrierischen Beamten Georg Michael Anton v. La Roche, zu dessen natürlichem Vater, dem Reichsgrafen Anton Heinrich Friedrich v. Stadion. Dessen Ahnentafel bringt den Brentano die Abkunft zunächst von den berühmtesten rheinischen Magnatenfamilien, in höheren Generationen von Fürstenhäusern, ja Kaisergeschlechtern des Mittelalters. Georg Michael v. La Roches Ehefrau aber, Marie v. Gutermann, aus einem angesehenen Bürgergeschlecht zu Biberach, vermittelte Verwandtschaft mit Wieland und, wahrscheinlich, auch mit den Haucke. den Vorfahren der Battenberg-Mountbatten, also ß,^bensp mit dem künftigen Könjg yon England, Charles.

Dieser Peter Anton Brentano jpat aus zwei Eben (eine dritte hatte nur eine in der ersten Generation erloschene Nachkommenschaft) eine Deszendenz von einer geistigen Erlesenheit, für die es kein zweites Beispiel einer derartigen Ansammlung durch nahe Verwandtschaft miteinander verbundener Genies und Uberbegabungen gibt. Von Peter Anton, dem 1797 Verstorbenen, stammen unter anderem: an Brentanos: der Dichter Clemens und dessen Schwester, die an Achim v. Arnim verehelichte Bettina, bekannt durch ihren Briefwechsel mit Goethe, der Staatsrechtslehrer und bahnbrechende Nationalökonom Lujo und dessen Bruder, der Philosoph Franz, der hessische Minister und Zentrumspolitiker Otto, der Außenminister der Bonner Bundesrepublik Heinrich, dessen Bruder, der deutsche Botschafter in Rom Clemens und endlich der Schriftsteller Bernard; sodann die einst gefeierte Autorin der „Briefe, die ihn nicht erreichten“, Elisabeth Freiin von Heyking, der Mystiker Stanislaus v. Guaita, der französische Philosoph, Völkerrechtslehrer und Soziologe Theodore und der gefeierte Historiker Franz Funck-Brentano, Mitglied des Instituts, der Komponist Max v. Schillings und endlich der Reichskanzler und bedeutende katholische Denker Graf Hertling ... Aus derlei Geisteshoch-adel stammte Bernard v. Brentano.

In der Schweiz machte ich seine persönliche Bekanntschaft. Er hatte, in gar manchem, ein ähnliches Schicksal wie der gefeierte Philosoph Franz Brentano, sein naher Verwandter. Herangewachsen in fromm-katholischer Umwelt — sein Vater war der, schon genannte, Zentrumspolitiker und Minister Otto v. Brentano —, wurde er nach Abschluß seiner Hochschulstudien in Freiburg i. Br., München und Berlin vom Strudel der Weltstadt erfaßt, die sich schnell aus ihrem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch emporraffte, doch das trostlose Bild eines schier unentwirrbaren Chaos aller bisher gültigen sittlichen Werte darbot. Das Zentrum, politisch wieder in den Vordergrund rückend, galt in mancher Hinsicht als eine sichere Insel in diesen blutrot und braun, ein wenig noch schwarzweißrot gefärbten, stürmischen Wellen. Herr v. Papen, Gesandter von Beruf, doch sicher kein Geschickter aus Berufung, hatte, ungeachtet seiner diplomatischen Mißgeschicke, dank seiner Verknüpfung mit der Großindustrie in der Partei eine Schlüsselstellung inne. Er verfügte insbesondere über das Berliner Zentralorgan, die „Germania“. Mindestens in zwei ungemein fähigen Männern, die er an diese Zeitung fesseln wollte, hatte er sich arg getäuscht: an Professor Hagemann, der heute, nach mancherlei unprofessoralen Affären, in der DDR sitzt (beileibe nicht im Gefängnis, sondern als Paradekatholik an geehrten Orten), und an Bernard v. Brentano. Brentano wurde von der Communitis früher erfaßt. Es war eine Jugendkrankheit, die indessen nur milde Symptome zeigte. Seit 1925 Redakteur an der „Frankfurter Zeitung“, gehörte er zu jenem unübertroffenen Stab einer Feuilletonredaktion, in der Sieburg, Cracauer, Wickenburg, Taucher — um nur aufs Geratewohl ein paar Namen zu zitieren — wirkten und den bitteren Scherz Karl Kraus' von der „Kultur im Dienste des Kaufmanns“ zur Wirklichkeit machten (ohne sich freilich viel um den Kaufmann zu sorgen und kaum mit viel Sympathie für den Kommerz). Brentano reiste im Auftrag seiner Zeitung viel und weit umher: kam, sah und sagte gar Gescheites. 1933 übersiedelte er nach der Schweiz, in eine Villa am Zürichsee, nahe der Metropole an der Limmat. Seine freiwillige Emigration stand in engem Zusammenhang mit seinen persönlichen Schicksalen und mit der politischen Entwicklung.

Recht jung hatte Bernard eine Dame aus seinen Kreisen geheiratet. Die Trauung vollzog der damalige Nuntius in Berlin, Erzbischof Pacelli, später Papst Pius XII. Ich habe noch das Hochzeitsbild vor Augen: die aristokratische Gesellschaft rings um Brautpaar und Nuntius. Bald darnach kreuzte eine andere Frau Brentanos Weg, Margot Gerlach, mütterlicherseits mit den Weinberg verwandt. Die erste Ehe Bernards zerbrach und er heiratete nochmals, ähnlich wie einst Franz Brentano Fräulein v. Lieben. Die zweite Ehe wurde eine gute. Ihr entsprossen zwei Söhne, von denen einer bereits in der Hochfinanz mitzählt.

Als ich die beiden Brüder erstmals sah, waren sie noch muntere und sehr hübsche Buben, die im schönsten Schwyzerdütsch mit Altersgenossen spielten. Der Vater schrieb, umsorgt und anscheinend ohne besondere materielle Sorgen: zwei minder bedeutsame Romane und zwei andere, die zusammengehörig eines Ranges mit den „Schlafwandlern“ Brochs sind, mit dem sie den Stoff (Berlin-Deutschland; Motto im Gegensatz zu Paris: fluctuat et mergitur) teilen: „Theodor Chindler“ (1936) und „Franziska Scheler“ (1945). Brentano hat vor Broch voraus, daß er die Dinge — und nicht nur die Menschen — von innen heraus sieht, ohne Haß, und vor allem, daß er einen Stil schreibt, der bewußt neuen Inhalt in erprobtes, schönes Sprachgefäß fügt. Dem Österreicher und dem Rheinländer war aber eine Grundlage gemeinsam, auf der sie ihre Schilderung aufbauten: die soziologische Betrachtensweise. Daß nun Brentano, noch mehr als Broch, nicht die leiseste Spur von Lebhaftigkeit in seine besten Romane hineintrug, daß er Gestalten wie die der Frauen in „Franziska Scheler“ schuf (oder, wir verraten da kaum ein Geheimnis, in manchem der Wirklichkeit nachschüf), daß er in den Chindler, den Männern nämlich, These und Antithese des guten Preußen-tums zur Synthese vereinte: Wir halten dies der uneingeschränkten Bewunderung würdig. Dann stammt noch aus den Schweizer Tagen ein Buch über August Wilhelm Schlegel (1943), das kongenial einen Mann darstellt, der so wundersam, ohne deren genealogische Voraussetzungen, den Brentano wähl- und qualverwandt gewesen ist. Zuletzt sei noch das „Tagebuch mit Büchern“ (1943) gerühmt, das mich immer wieder an einen andern Geistesverwandten Bernards, an den unvergeßlichen Theodor Heuss gemahnt. Doch war der nicht ein geistiger Sohn Lujo Brentanos? Der Aufenthalt in der Eidgenossenschaft endete mit einem schnöden

Mißklang. Ein J..... bellte den ihm offenbar zu innerst Verhaßten unablässig an, beschuldigte ihn, zu Unrecht, geheimer Nazi-Verbindungen. Das Lästermaul ist inzwischen in sein Nichts Zusammengeschrumpft. Brentano kehrte nach Deutschland heim, richtete sich zu Wiesbaden in einem gastlichen Haus ein, in dem er, die geistreiche, charmante Gattin zur Seite, das behagliche Dasein eines Weisen führte, der vieler Menschen Städte gesehen und noch zahlreicherer'iWenscneh niedrigen, weniger hohen Sinn erkannt hatte. Doch wurde ihm während dieser allzu früh endenden Jahre schweres körperliches Leiden zum täglichen Begleiter. Als ich ihn vor einigen Jahren in Wiesbaden besuchte, war ich entzückt über seinen sprudelnden Geist, von seinem Tuskulum und der Hausfrau, die darin waltete, doch die physische Veränderung, die mit dem vordem quicklebendigen und um soviel Jahre Jüngeren vorgegangen war, erschütterte mich geradezu. Ich habe mir davon nichts merken lassen. Er selbst schien sich aber in seinen letzten Monaten über seinen Zustand klar zu sein, denn als ich im Dankbrief für seine Wünsche zu meinem 75. Geburtstag die Hoffnung auf ein Wiedersehen im nächsten Frühjahr aussprach, antwortete er, nicht lange vor seinem Tod, mit philosophischer Gelassenheit: er erwarte keine neue Begegnung ...

In Wiesbaden hat er noch einiges von wesentlicher Bedeutung verfaßt. Streifzüge (eine neue Folge seines Tagebuchs mit Büchern), eine Neuausgabe seines herrlichen Essays über Goethe und Marianne von Willemer, und vor allem seine Selbstdarstellung, ein Meisterwerk der autobiographischen Kunst und der Selbstkenntnis „Du Land der Liebe“ (1953). Man kann, und damit sei der Wesenskern des Werks eines Vor- und Nachdenklichen abgeschlossen, nicht an den soziologischen Büchern vorbeihasten, in denen Brentano, langsam vom sozialistischen Dogmatismus zur objektiven Betrachtung hinüberschwenkend, und dennoch im Grunde er selbst, der Künstler vor dem Käufer, in dem er doch nur den dankbaren Genießer erblicken möchte, geschrieben hat: „Kapitalismus und schöne Literatur“ (1930, das bedeutendste Zeugnis aus seiner vorschweizerischen Periode), „Der Beginn der Barbarei in Deutschland“ (1932, ihn als homo politicus bestätigend), „Die geistige Situation der Kunst in der Gesellschaft“ (1955) und endlich „Schöne Literatur und öffentliche Meinung“ (1962).

Liest man diese besonnen-besinnlichen und doch von heiligem Zorn, wie von einsichtigem Maß prallen Pamphlete, dann erscheint unabdrängbar noch zweierlei an Brentanos Horizont: der Schuß österreichischen Bluts, das in seinen Adern rollte (über die Ururgroßmutter von Birckenstock und deren Vorfahren). Sodann der Mann, ohne den überhaupt nichts Wertbeständiges im deutschen Sprachbereich denkbar ist, Karl Kraus. Der hat zu Brentano, allerdings lose, Beziehungen unterhalten. Ich glaube, es entspräche den beiden erlauchten Geistern, wenn ich diesen Nachruf, den ich mit tiefer Trauer im Herzen niederschreibe, in eine kleine heitere Note ausklingen lasse, in eine Anekdote, die sogar den Vorzug hat, wahr zu sein. Als Brentano 1933 Deutschland verließ, reiste er über Wien. Hier suchte er Karl Kraus zu treffen, der noch und wie immer nur im Kaffeehaus Audienzen gab. Brentano und ein zweiter hervorragender Dichteremigrant erschienen am damaligen Amtssitz des HeraiwBsbeKAudwttfcfackel“. Dieser hob ein wenig den,Köpf, blickte die Ankömmlinge mit seinen unergründlichen Äugen an und sprach die, bald geflügelt gewordenen, Worte: „Aha, die Ratten betreten das sinkende Schiff.“ Brentanos Art war es nicht, triumphierende Großkampfschiffe zu betreten, die sich vor Untergang gefeit glaubten. Er war ein mutiger Kämpfer, als Mensch so groß wie als Schriftsteller.

Und da regt sich in uns, den Katholiken, die wir an einem Moment des Lebenslaufs dieses Sohnes aus so frommem Stamm nicht achtlos vorüber können, es regt sich die Frage: wie hielt er es mit der Religion? Daß er, aus edelsten Motiven, bei der extremen Linken zeitweilig suchte, und nicht fand, was er oft am einstigen offiziellen deutschen Katholizismus vermißte, das bedeutet uns heute wenig. Uber Persönlichstes mag Gott urteilen. Wir fragen nur: Ist in diesem Werk eine Spur katholischer Gesinnung? Und da wagen wir ein zwiefaches Ja. Es stützt sich auf die soziologischen Ansichten Brentanos und auf jene Anfangskapitel der „Franziska Scheler“, in denen in durchsichtigster Verkleidung der Berliner Apostel Pfarrer Carl Sonnenschein als Doktor Lichtstrahl erscheint.

Hohe Würden haben Bernard von Brentano geziert: er war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, dann der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Eine Elite wußte ihn an den rechten Platz, unter die Ersten, zu stellen. In Frankreich hat die Revue Universelle das Organ Bainvilles und später Henri Massis', den Chindler-Roman in Übersetzung gedruckt. Doch, wie wir schon sagten, der großen Öffentlichkeit im deutschen Sprachraum ist weder klar geworden, was sie an Bernard von Brentano besaß, noch was sie an ihm verlor. Das gutzumachen, soll, muß, wird Aufgabe künftiger Generationen sein.

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