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Nichts als Unsinn

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Um nicht mehr auf seine Honorare als Schriftsteller angewisen zu sein, sollte der Verfasser mit einer Firma, die Schlafmittel erzeugt, eine Geschäftsverbindung eingehen. Denn sein Buch ist derart fesselnd, daß der Leser abends statt einzuschlafen nicht aufhören kann, Seite für Seite zu verschlingen. Es ist eine Icherzählung, randvoll mit Widersprüchen, Ungereimtheiten und dennoch oder vielleicht gerade deswegen eine Lektüre, mit der man, wie gesagt, nicht aufhören kann. Durch einen ungewöhnlich sinnlosen Unfall hat der Erzähler den Gebrauch der Beine eingebüßt. Das zweite Unglück besteht darin, daß er ein dickes aber leeres Schreibheft gefunden hat. Beide Ereignisse zwingen ihn. niederzuschreiben, was er in seiner Umgebung beobachtet. Er kann weder an den Vorfällen des Tages tätig teilnehmen, noch kann er unbeschriebene Seiten sehen. Das Köstlichste für unsere Leser besteht darin, daß wir dem lahmen Chronisten widersprechen müssen. Denn die Schlüsse, die er aus seinen Beobachtungen zieht, sind durchwegs falsch. Der Vater ist für ihn ein Genie mit einmaligen Ideen. In Wirklichkeit aber hat er nichts als Unsinn im Kopf, die Ausgrabung eines Mammuts in Nowaja Semlja, die Überbauung eines Russes mit drehbaren Kugelhäusern, eine Lotterie, bei der jedes Los gewinnt, und ein Wettsystem mit hundertprozentiger.. Sicherheit. Dieses Genie verdient keinen Groschen und die arme „Ma“, die gute Mutter, die immer wieder leise jammert, „Man hat's nicht leicht“, muß alle paar Tage den schrecklichen Weg zu den reichen Verwandten machen, um Geld zu erbitten.

In dieser Normalfamilie erforscht eine Tochter die Grammatik der Mayasprache, die andere ist eine Allroundsportlerin, von den Söhnen — außer dem Lahmen — zieht der eine auf Kosten der Familie als Weltenbummler rund um den Globus, der andere ist nichts als Briefmarkensammler. An köstlichen Nebenfiguren fehlt es nicht, die Bäckersfrau liefert nur verbrannte Semmeln, weil sie hoffnungslose Filmmanuskripte schreiben muß, ihre Tochter studiert auf Lebedame, Onkel Valentin stellt Horoskope, die niemals stimmen, und der täglich zur Jause antretende Freund des Hauses, ein Rechtsanwalt ohne Klienten, redet alle und alles zu Tode. Die für den Leser überaus amüsante Normalfamilie lebt von der stillen Aufopferung der „Ma“. Sie hat's nicht leicht. Aber die Komödie hat einen tragischen Schluß. Die ,,Ma“ stirbt 1 Wie soll es mit der Familie weitergehen? Der Erzähler weiß es nicht. Wir wissen es auch nicht.

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