Ohne Bindung in der Krise

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Auf ein Wort

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Die seltene kalendarische Konstellation der vergangenen Wochen schenkte uns eine untypisch dichte Aneinanderreihung von Feier- und Fenstertagen. Mitten in den Turbulenzen der Finanzmarktkrise kam das sehr gelegen. Mehr Zeit für die Nächsten, die Freunde, sich selbst. Ein Innehalten zwischen den Jahren und wieder einmal der Versuch, die Prioritäten für den Neubeginn richtig zu setzen.

Umso stärker der Kontrast zur äußeren Unruhe und Anspannung in Normalzeiten. Immer mehr verspüren wir angesichts kürzerer Verweildauer und erhöhter Anforderung an Flexibilität im Job (hieß das nicht einmal Beruf?) einen Dauerpegel von Stress und geringerer Planbarkeit. Schwer zu sagen, was zuerst kommt: bereitwilliges Eingehen auf die neuen Spielregeln einer Welt der Lebensabschnitts-Beschäftigungen oder eine selbstgemachte Unsicherheit der Lebensplanung.

Beliebig austauschbare Klingeltöne

"Ohne Bindung" - dieses Werbeversprechen eines Mobilfunkbetreibers klingt heute verlockender als die In-Aussicht-Stellung von Sicherheit: ein Leben in sequentieller Vertragstreue - mit beliebig auswechselbaren Klingeltönen. Und weil der Kurswert von Vertrauen nicht nur in der Finanzwelt auf ein säkulares Tief gesunken ist, nimmt die Bereitschaft zu verbindlichen, berechenbaren Verhältnissen ab.

Richard Sennett ("Der flexible Mensch") beschrieb schon früh das neue Grundmuster der beruflichen Lebensplanung: nichts Langfristiges. Der moderne Mensch ist auf häufige Veränderung eingestellt, er weiß, dass ihm Loyalität zum Unternehmen in der Krise nicht zum Vorteil gereichen muss. Wenn auch die Flexibelsten von allen, die Leih-Beschäftigten, nun als Erste "freigesetzt" werden.

Der Soziologe Hans-Peter Blossfeld weist darauf hin, dass die zunehmende Unsicherheit beruflicher Karrieren die Lebensläufe gerade jüngerer Menschen beeinflusst. Sie schieben ihre privaten Bindungsentscheidungen und damit auch die Familiengründung immer länger auf. Skandinavische Länder, in denen auch bei hoher Beschäftigungsfluktuation durch aktive Arbeitsmarktpolitik genügend Beschäftigung gewährleistet bleibt, liegen in dieser Hinsicht übrigens besser.

Beziehungs- und Genussfähigkeit

Die Krise lehrt uns aber auch, dass wir mit dem Rezept "Flexibilität" zu kurz greifen. Ist nicht gerade ein Mensch, der in tragfähigen Bindungen lebt, der Selbstsicherheit und Eigenverantwortung erlernt hat, der beziehungs- und genussfähig ist, besonders krisenresistent? Wo das Vertrauen in abstrakte Markt- und Arbeitsbeziehungen abnimmt, schafft gestärktes Selbstvertrauen und die Bindung an verlässliche Werte-Quellen einen Ausgleich.

In einer Dorfkirche fand ich im letzten Sommer den schönen Weisspruch: "Hilf uns, mit den vergänglichen Gütern so umzugehen, dass wir die ewigen nicht verlieren." Es gibt wohl kaum eine treffendere Beschreibung der ständigen Suche nach einer Balance zwischen Haben und Sein.

Oder, ganz anders formuliert: Wie werden wir es schaffen, das Wirtschaftssystem wieder mit unserem Wertesystem zu versöhnen?

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