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Balg und Flegel

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Balg, Saubalg, Fratz, Saufratz, Schlingel, Löffel, Rüpel, Bengel, Rotznase, Lausbub, Strizzi, Tunichtgut, Flegel, Taugenichts, Schreihals, Memme. Diesen deut-“ sehen Bezeichnungen für Kinder und Kleinkinder stehen in den lateinischen Sprachen eher raooz-zaccio, was soviel wie Bengel heißt, oder cattivo bambino — etwa schlimmes Kind, moccioso — Rotzer, gegenüber. Ein Ubergewicht offenbart sich, dem nachzugehen lohnt.

Der Wohnraum in den Alpen und nördlich davon war stets eine Höhle. Noch heute suchen Hotelbauer in der Stubenarchitektur Zuflucht und Gemütlichkeit. Die Stube darf nie an Schnee erinnern. Sie ist daher dunkel, getäfelt, nicht selten bis zur Decke. Ihre Beleuchtung ist meist gelblich. Fackellicht.

Schon von der Farbe und der Beleuchtung her drängt sich der Vergleich mit der Höhle auf, zumal man nicht selten noch Felle an den Wänden und ausgestopfte totgeschossene Tiere, wie Spiel-und Auerhahn, Marder, Sperber, ja selbst Eichhörnchen als Zierat findet und als Trophäen sichtbar macht. Es gibt im südlicheren Teil Zentralanatoliens Wohnkuben aus getrocknetem Lehm, in denen balsamierte Stierköpfe von den Wänden starren und das Innere mit dem Stier-Geist erfüllen. Diese Behausungen sind etwa achttausend Jahre alt.

Die Höhle, die vor unseren Stuben war, bestand zumeist aus einem Raum, in dem sich Frauen und Kinder drängten, meist während sechs und mehr Monaten im Jahr. Es ist anzunehmen, daß die gegenseitige Störung beträchtlich war, daß sich starke persönliche Spannungen und Feindseligkeiten gerade Ungebärdigen gegenüber entspannen; und wer ist ungebärdiger als ein Heranwachsender? Man könnte also annehmen, daß sich aus dieser Aggression jener negative Sprachschatz entwickelte, der heute noch unser Verhältnis zu unseren Kindern belastet.

Im Mittelmeerraum spielt die Behausung eine untergeordnete Rolle, dort ist der eigentliche Ort des Lebens im Freien, Licht, Sonne, Temperatur ermöglichen dies. Und das Gegröle, das Laufen, die Streiche, alles ereignet sich auf einen unvergleichlich breiteren Raum verteilt, als dies in der feindlichen Natur nördlicher Breiten möglich wäre. Daraus entstehen solche Aggressionen und der sie bezeichnende Wortschatz erst gar nicht.

Das Kind, das im Norden Schutz, Zuflucht, ja Rettung nur im Hause, in der Höhle fand und findet, besitzt im Süden während des größten Teiles des Jahres die Weite des Himmels als Wohnung. Seine Sprache sind die Wolken. Sie verwunden nicht.

Niemand schließe allerdings daraus, daß, je höher im geographischen Norden, umso beleidigender die Anrede für Kinder sein müsse. Norden in diesem Sinne ist eine Region des kalten Herzens.

Der Autor lebt als österreichischer Lyriker in Mailand.

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