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Blut oder Stein l

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Die Kulturstadt Berlin. Der träge dahinfließende Strom der Kunst entfacht Wirbel an seinen Rändern. An einem Mittwoch höre ich zufällig, drei neue Stücke von Heiner Müller würden gezeigt. Am nächsten Abend gehe ich zu einer kirchlichen Einrichtung und sehe mit fünfzig anderen Zuschauern ,Medea Material“, „Verkommenes Ufer“, ,J3ildbeschrei-bung“.

Zweieinhalb Stunden konzentriertes, leidenschaftliches Spiel. Die jungen

Schauspieler locken präzise die Spannungen der Texte auf die Nichtbühne, verblüffend jene von einem Mann gespielte Medea.

Am Schluß wickelt eine Frau die Gäste mit dünnem Garn ein, den letzten Satz unaufhörlich wiederholend: „Was ist stärker, Blut oder Stein?“ Unterstützt vom Tonband, das den Satz nach Abgang der Akteurin mit monotoner Stimme weiter abspult. Und wir, mäßig verschnürt, warten ab. Es tut sich nichts. Bis sich die ersten aus den Fäden hochrappeln. Bis einer das Band abstellt, alle klatschen.

Die Spieler treten nicht artig zum Schlußapplaus vor, selbst eine Geldspende vergessen sie einzusammeln. Die Medea spielt ein künftiger Schauspielstudent. Nein, seinen Namen will er nicht sagen, als er später abgeschminkt die Requisiten wegräumt.

Nein, nochmals auftreten werden sie nicht. Ich erfahre von einem Bekannten, daß auch die anderen ans Theater wollen. Deshalb keine Plakate, keinerlei Ankündigung der Gruppe.

Der Abend entläßt mich begeistert und nachdenklich. Künstlerisch gehört er zu den Lichtblicken im Nebel der Durchschnittlichkeit auf den Brettern, die die Theaterwelt der Hauptstadt bedeuten sollen. Was macht eine Gruppe, die keine Gruppe sein will, daraus?

Sie hätte in einem staatlichen Kulturhaus oder Jugendclub arbeiten können. Da gäbe es finanzielle Unterstützung — und Diskussionen über den Sinn des Ganzeh. Uber den fast nackten Manp an der^einen, den imitierten Geschlechtsakt an anderer Stelle.

Oder das Mädchen in landesüblicher Zivilschutzuniform auf einem Dia. Klar, sie wollen sich nicht rechtfertigen müssen, deshalb mieten sie einen kirchlichen Raum. Die Verbindung mit der Kirche schadet wiederum Studienmöglichkeiten, also möglichst geheimhalten.

In sich ist alles logisch, an sich scheint es absurd. Im Westen verschwendet man Energie, um die eigene Arbeit bekannt zu machen. Hier, nicht nur bei diesen Akteuren, damit etwas nicht zu bekannt wird.

Und das bei einer Kunstform, die mehr als andere auf ungehemmte Öffentlichkeit angewiesen ist.

Aus: OSTBERLIN. Von Lutz Ratze-now/Harald Hauswald. Piper Verlag, München 1987.

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