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Blutjustiz im Namen Allahs

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Zum ersten Mal seit 18 Jahren werden im Sudan Wahlen abgehalten. Die Hoffnung der Sudanesen konzentriert sich auf die geplante Abschaffung der islamischen Blutjustiz.

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Zum ersten Mal seit 18 Jahren werden im Sudan Wahlen abgehalten. Die Hoffnung der Sudanesen konzentriert sich auf die geplante Abschaffung der islamischen Blutjustiz.

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Meine erste Begegnung mit einem kreuzweise Amputierten in Khartum war schockierend für mich: Jumaa Deng, ein Schwarzafrikaner vom Stamm der Dinka aus dem Süden, hat nicht einmal eine Krücke. Auf allen Vieren, auf dem rechten Armstumpf, der gesunden Linken und dem heilen rechten Fuß sich abstützend, kriecht er zu mir, um mich zu begrüßen. Dreimal hat man ihm inzwischen den linken Fuß abgeschnitten: Bei der Amputation im Kober-Staatsgefängnis trennten die Henker seinen Fuß so laienhaft am Knöchel ab, daß kein Hautlappen und kein Fleisch da war, um es über den Knochen zu legen.

Die Ärzte riefen ein Taxi und setzten den notdürftig Versorgten hinein. Als der Fahrer hörte, daß Jumaa kein Geld hätte, warf er den Hilflosen auf einem der Märkte Khartums hinaus. Wie er überlebt habe, frage ich Jumaa. „Schamascha“, antwortet Jumaa, und ich verstehe. Die „Schamascha“ — „Schnupperer“ etwa zu deutsch, das sind die zehntausend elternlosen Straßenjungen Khartums, die bettelnd, stehlend, Gelegenheitsarbeiten verrichtend, hier vegetieren. An benzingetränkten Fetzen riechend, versuchen sie in Rausch und Benzintrance ihr Elend zu vergessen — daher der Name.

Am 9. September 1983 traten im Sudan die Islamischen Gesetze in Kraft. General Gafaar Numeiri hatte seine wackelige Diktatur durch einen Zusammenschluß mit den fanatisch-fundamentalistischen „Moslembrüdern“, einer radikalen Splittergruppe unter der Führung des Juristen Dr. Hassan al Turabi, noch einmal - zum letzten Mal - abgesichert: Dr. Turabi avancierte zum Generalstaatsanwalt und zum Justizminister. Unter Berufung auf den Koran führte er die Amputationsstrafe für Diebstahl und Raub, die Strafe der Auspeitschung für Alkoholkonsum und -handel, für „Unmoral“ und „Landstreicherei“ ein.

Auf Kritik an diesen religiösen Gesetzen, auf „Abfall vom rechten Glauben“ also, stand die Todesstrafe. Sie wurde am 18. Jänner 1985 exekutiert: Der 76jährige . Korangelehrte Mohammed Mah-moud Taha, politischer Führer der kleinen Partei der „Republikanischen Brüder“, hatte in Flugzetteln diese „unmenschliche und veraltete Auslegung“ des Islam kritisiert. Numeiris Richter - keine Juristen, sondern Korangelehrte! - machten Taha wegen „Häresie“ den Prozeß. Taha wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Heute, ein Jahr später, sitze ich im Büro des Rechtsanwaltes Taha Ibrahim (der Name Taha ist häufig im Sudan, der Anwalt ist nicht mit Mahmoud Taha verwandt). Er konnte damals knapp der Geheimpolizei, die auf ihn in Büro und Wohnung wartete, entkommen. In einer zwölf stündigen Nonstop-Fahrt erreichte er die äthiopische Grenze und entkam so dem Strang. Der Anwalt hatte viele der Opfer des Numeiri-Re-gimes verteidigt, war selbst jahrelang in Numeiris Gefängnissen gesessen.

„Die Moslembrüder haben ihren Namen geändert“, sagt er mir, „sie nennen sich .Nationale Islamische Front', aber ihr Einfluß ist auch nach dem Sturz Numeiris sehr groß. Ihre Mitglieder sitzen in Machtpositionen von Polizei und Armee und vor allem in den Kreisen der Justiz.“ Anwalt Taha blättert in einem Stoß Akten auf seinem Schreibtisch. „Seit Numeiris Sturz im April 1985 sind an die vierzig Amputationsurteile ergangen“, sagt er. Die neue Regierung, der Militärrat mit General Sawar Dahab an der Spitze und dem Arzt Dr. Mahmoud Da-falla als Chef der Zivilregierung, haben die Gesetze vom September 1983 nicht aufgehoben, nur die Exekutionen wurden gestoppt.

„Die physische und psychische Situation der Häftlinge, die im Kober-Gefängnis auf die Urteilsvollstreckung warten, ist unbeschreiblich“, sagt Anwalt Taha. Alle sind in Ketten gelegt und alle warfen täglich, stündlich, ja jede Minute darauf, geholt zu werden. Sie erwartet der „Saal der Gerechtigkeit“, wo vor der Exekution — wie mir die Opfer erzählten eine Koransure vorgelesen wird, die auf die Amputationen Bezug nimmt.

Das Prinzip der Vergeltung in den islamischen Gesetzen Numeiris führt zu grotesken Auswüchsen: „Verurteilt zu einem acht Zentimeter langen Schnitt auf der Stirn, zum Ausschlagen der oberen zwei Vorderzähne und zu einem Hieb auf die linke Brustseite, der einen Bluterguß verursacht“, liest Anwalt Taha aus einem Urteil vor.

Die Amputierten haben sich zu einer Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen. Sprecher ist der zweiundzwanzigjährige Student John Rüben, ein Schwarzafrikaner aus dem Süden. Er ist Christ, wie viele andere Opfer auch. Gerade die Schwarzen des Südens, die aus dem unterdrückten Armenhaus des Sudan in der Hoffnung auf Arbeit und Lohn nach Khartum gekommen sind, wurden zum großen Teil Opfer der islamischen Gesetze Numeiris.

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