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Das längste Garn

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Unter allen Ländern, die es nicht gibt, ist sicher das der Elben am besten dokumentiert. Wir kennen seine Topographie, seine Flora und Fauna, wissen über seine Nachbarvölker Bescheid, kennen uns in allen hellen und dunklen Epochen seiner wechselvollen Geschichte aus und lernen nun auch seine Vorgeschichte noch besser kennen.

Die Beschreibung des Elbenlandes und seiner fiktiven Historie ist das Lebenswerk von J. R. R. Tolkien, niedergelegt vor allem in dem gewaltigen Opus „De Herr der Ringe“, dem nun mit jener Logik, mit der sich Vorgeschichte vor der eigentlichen Geschichte ereignet, aber meist später ins Bewußtsein dringt, unter dem Titel „Das Silmarillion“ der Bericht über die ältesten Zeiten der Tolkien-schen Welt folgt. Es ist Tolkiens erstes Buch, erschien aber auch in der Originalausgabe erst nach seinem Tod.

John Ronald Reuel Tolkien spann ein Leben lang an einem der längsten aller literarischen Garne. Er erzählte in einer Sprache, deren Modernität in einem zunächst befremdenden, dann faszinierenden Gegensatz zum getragenen, an die altnordischen Dichtungen erinnernden Ton steht, von Elben und Zwergen und anderen mythischen Wesen. Die große Geschichte ist mit äußerster Akribie durchkonstruiert und die Quantität der Ausführlichkeit schlägt um in die Qualität eines mythischen Realis-

mus, der zu neuem Nachdenken über etwaige Realität hinter Mythischem zwingt.

Tolkien ist ein Dichter mit großer sprachschöpferischer Kraft. Nicht so sehr der Inhalt seiner Erzählung wie, vor allem, deren sprachliche Struktur und die von Tolkien zur Beschreibung seiner Welt geschaffene Nomenklatur konstituiert deren Realität.

Doch ganz abgesehen davon beginnt man sich, ist man erst einmal in den Bann dieses Erzählers geraten, alsbald auch zu fragen, wie weit es sich da nur um ein individuelles Phantasieprodukt handelt. Ob da nicht einer kollektive Träume ans Tageslicht holt Ob da nicht Gestalt gewinnt, was im Unbewußten einer Kultur (jeder Kultur) ist und wirkt. Mythen waren, neben dem des logischen Denkens, immer ein Weg des Menschen zu sich selbst. In den antiken Mythen sucht sich der moderne Mensch, weil er die Fähigkeit verloren hat, neue zu schaffen, das heißt: aus dem Unbewußten ins Bewußtsein zu holen. Oder weil er glaubt, diese Fähigkeit verioren zu haben. Denn Strömungen wie der Surrealismus und Einzelphänomene wie Tolkien beweisen, daß dem nicht so ist.

DAS SILMARILLION. Von J. R. R. Tolkien. Verlag Klert Cotta, Stuttgart, 1978, 404 Seiten, öS 276,50

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