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Old Shatterhand im Märchenland

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Tolkiens „Herr der Ringe“ ist ein literarisches Unikum, für das sogar ein neuer Gattungsbegriff erfunden wurde: Mythopoetische Prosadichtung. Bescheidener könnte man dieses wahrhaft monströse Werk auch als Märchen- und Abenteuerroman bezeichnen, der in einer erdachten Welt spielt, in der es neben den Menschen eine Fülle von anderen, teilweise bekannten vernunftbegabten Wesen gibt: Alben, Zwerge, Zauberer, Ents Orks Trolle vor allem aber Hobbits.

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Tolkiens „Herr der Ringe“ ist ein literarisches Unikum, für das sogar ein neuer Gattungsbegriff erfunden wurde: Mythopoetische Prosadichtung. Bescheidener könnte man dieses wahrhaft monströse Werk auch als Märchen- und Abenteuerroman bezeichnen, der in einer erdachten Welt spielt, in der es neben den Menschen eine Fülle von anderen, teilweise bekannten vernunftbegabten Wesen gibt: Alben, Zwerge, Zauberer, Ents Orks Trolle vor allem aber Hobbits.

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Der Hobbit Frodo Beutlin ist zufällig in den Besitz eines Zauberringes gelangt, der seinem Träger eine unüberwindliche Macht verleiht, eine verfluchte Macht allerdings: Wenn der Ringträger sie gebraucht, wird er böse wie Sauron, der Herr der Ringe. Hobbits sind kleine, gemütliche Burschen ohne großen Ehrgeiz und Fro-dos ganze Sorge ist nur, wie er den Ring wieder los wird — und zwar so los wird, daß ihn niemand in die Hand bekommt, der bereits böse ist und die Macht des Ringes darum bedenkenlos einsetzen würde. Ein Diener und ein paar Freunde helfen Frodo dabei. Die Abenteuer, die sie zusammen und einzeln bestehen, füllen drei Bände, von denen in England und Amerika bisher drei Millionen Exemplare verkauft wurden.

Derartige Auflageziffern sind aus den literarischen Qualitäten eines Buches allein nicht zu erklären. Abgesehen davon, daß die Geschichte wirklich spannend ist, scheint Tol-kien den englischen Lesern einen dringenden Wunsch erfüllt zu haben, der bisher von keinem anderen Autor erkannt wurde. „Der Herr der Ringe' schwimmt auf keiner aktuellen Welle mit, am allerwenigsten auf der eines angeblichen Realismus, der allerhand beim Namen nennt, was umschrieben deutlicher war und mehr Vergnügen bereitet hat. Bei uns allerdings ist der weiße Fleck, der da im englischen Sprachraum vorhanden war, längst und noch immer fest besetzt. Nicht, wie man meinen könnte, von den Gebrüdern Grimm: von Karl May, dem Supermann aus Rastebeul. Die Verlagerung ins gänzlich Märchenhafte soll uns da nicht täuschen, sie war notwendig, weil die Skipetaren, Kurden, Apachen und Sioux ihren Zauber verloren haben, seit man unter den Ruinen von Babylon nach öl bohrt und im Wilden Westen Univergitäts-krawalle mit Nationalgardisten schlichtet. Wenn man davon absieht, sind die Parallelen verblüffend, das reicht vom großen Kampf der wenigen Guten gegen die vielen Bösen bis zu den Wunderwaffen der Helden. Sogar die merkwürdige Geschlechtslosigkeit teilt der „Herr der Ringe“ mit den Romanen von Karl May. Die Sioux sind zu Orks geworden, der Henrystutzen und der Bä-rentöter zu einem Zauberdolch und einem Zauberpanzer, und der Diener Sam Gamschie ist ein ebenbürtiger Bruder von Hadschi Halef Omar. Aber dann wächst Tolkien hoch über Karl May hinaus, in der Absicht und im Gelingen. Während Karl May als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi vor Pappendeckelkulissen abenteuert, die einer uns vertrauten Welt nachgebildet sind, hat Tolkien für den „Herrn der Ringe“ eine „Mittelerde' erfunden, die wahrer und lebendiger ist als jede Wirklichkeit. Vielleicht ist es diese andere, von den Menschen nicht verwüstete Welt, eine trotz des bösen Sauron überaus heile Welt, die im Zeitalter der Pollution auch den deutschsprachigen Leser faszinieren und den „Herrn der Ringe“ auch bei uns zum Bestseller machen könnte. Schon die wissenschaftliche Akribie, mit der Tolkien seine „Mittelerde“ bis in die geringfügigsten Einzelheiten durchkonstruiert hat, ist bewundernswert, ihre Schönheit und Großartigkeit aber einfach überwältigend, und die Handlung wird so bei aller Turbulenz und märchenechten Symbolkraft zu einer Art Pfadfinderspiel vor einem Hintergrund, auf dem das eigentliche Drama in grandiosen Bildern abläuft, dargestellt von Steppen, Bergen, friedlichen Tälern, schäumenden Flüssen und einer nebelverhangenen Bucht, von der aus Frodo und seine Albenfreunde sich zuletzt nach einem unbekannten, unbenannten Land im Westen einschiffen. Autor und Leser folgen ihnen nicht: Die Mittelerde ist auch ohne sie groß und schön genug und voll Wundern und Gefahren, um darin Hobbit oder gar Mensch zu spielen wie die amerikanischen Collegestudenten, die “in regelrechten Tolkienklubs das krause Garn des alten Oxforder Professors — Tolkien wird demnächst achtzig — weiterspinnen.

„DER HERR DER RINGE“. Von J. R. R. Tolkien, 1. und 2. Band. Klett-Verlag, 1970. Je Band DM 36.50.

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