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Das mißbrauchte Requiem

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Der deutsche Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer hat eine ungewöhnliche Form gewählt, um eine ernste und ernstzunehmende Anklage gegen die moderne Industriegesellschaft zu artikulieren. Im Rahmen einer Aufführung des unvollendeten Mozart-Requiems im Schweizer Fernsehen sprach Hildesheimer selbstverfaßte Texte gegen jene, die „den Wohlstand für sich anstelle der Sicherheit für ihre Nachkommen“ setzen und die Schöpfung systematisch ruinieren. Er forderte Gott, an den er nicht glaubt, auf: „Herr, gib' ihnen die ewige Ruhe nicht“.

Wer heute deutlich genug provoziert, kann auf ein starkes Echo hoffen. Ein deutscher Verlag hat nun den 1086 erstmals veröffentlichten Text und drei kleine, vor Jahren in einer Schweizer Provinzzeitung erschienene Beiträge in einem schmalbrüstigen Band („Klage und Anklage“) in Erinnerung gebracht.

Die Notwendigkeit einer raschen und durchgreifenden Einbeziehung ökologischer Erfordernisse in wirtschaftliche Überlegungen und Entscheidungen deutlichzumachen, ist eine wichtige Aufgabe. Die von Hildesheimer gewählte Form muß jedoch abgelehnt werden.

Wolf gang Hildesheimer ist Atheist und offenbar auch intellektuell nicht imstande, gläubige Menschen zu verstehen. Dies zeigt sich schon zu Beginn seines Kommentars. Die Bitte „Requiem aetemam dona eis, Domine“ wird als „Weisung“ an den Herrn mißinterpretiert. Wer so argumentiert, hat den Sinn einer katholischen Totenmesse nicht erfaßt und kann diese sicherlich auch nicht als Grundlage seiner Thesen verwenden.

Besonders befremdend ist die Aufforderung an den für ihn nicht existierenden Gott, Rache an den Toten zu üben, die an der bedenkenlosen Zerstörung der Natur schuld sind. Ein solches, dem modernen ethischen Bewußtsein widersprechendes Verlangen, kann nichts mehr bewirken, da Tote bekanntlich keinen Einfluß auf die Weiterentwicklung unserer Welt haben.

Hildesheimer schließt mit einer seltsamen Aufforderung: „Sollte auch ich schuldig sein, so bitte ich alle, die durch mich gelitten haben, um Verzeihung“. Also Rache für die anderen, Gnade für sich selbst. Auch wer nicht an Gott glaubt, unterhegt einem ethischen Prinzip, das von allen Menschen zu allen Zeiten verstanden wird: Was du nicht willst, daß man dir tu', das füg' auch keinem andern zu. Wer dieses Axiom leugnet, verneint jede ethische Verpflichtung des Menschen und damit auch die Notwendigkeit, Leben und Natur zu schützen.Was veranlaßt einen bedeutenden Schriftsteller wie Wolf gang Hildesheimer, berechtigter Sorge in so abstoßender Weise Ausdruck zu verleihen? Es lohnt sich, darüber nachzudenken.

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