Scheitern an der Wahrheitsfindung

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Die Biografie war sein zentrales Thema. Trotz grundsätzlichen Misstrauens gegenüber diesem Genre spielte Wolfgang Hildesheimer lebenslang mit Lebensläufen: witzig, ironisch, spöttisch, klug und ins Absurde gesteigert.

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Die Biografie war sein zentrales Thema. Trotz grundsätzlichen Misstrauens gegenüber diesem Genre spielte Wolfgang Hildesheimer lebenslang mit Lebensläufen: witzig, ironisch, spöttisch, klug und ins Absurde gesteigert.

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Lieblose Legenden" nennt Wolfgang Hildesheimer seinen 1952 erschienenen Sammelband von Kurzgeschichten und feiert damit sein literarisches Debüt. Die fiktiven Kurzviten sparen nicht mit Spott am deutschen Kulturbetrieb der Nachkriegszeit. Sie nehmen ihn unter die Lupe und sezieren ihn mit grimmigem Humor. In "Das Ende einer Welt" geht die feine Marquesa Montetristo mit ihren Gästen zu edlen Konzertklängen unter. Das Drama potenziert sich. Die Insel ist künstlich, die Marquesa ist eigentlich eine reiche Amerikanerin aus Ohio, und das hinreißende Musikstück ist leider eine Fälschung. Der abendländischen Geschichtsschreibung ist nicht zu trauen. Mit Contenance harrt die noble Gesellschaft aus, bis das Wasser sie verschluckt hat. Die Bediensteten und der Ich-Erzähler retten sich. Den Kommentar "ich gehe" wiederholen Hildesheimers Helden in Variationen noch des Öfteren, wenn auch im späteren Werk die augenzwinkernde Leichtigkeit fehlt.

Witziges Spiel mit Lebensläufen

Die Biografie bleibt zentrales Thema. Trotz grundsätzlichen Misstrauens gegenüber diesem Genre, spielt Hildesheimer lebenslang mit Lebensläufen: witzig, ironisch, spöttisch, klug und ins Absurde gesteigert. Seiner Meinung nach scheitert jeder Biograf an der Aufgabe der Wahrheitsfindung, da ihm seine subjektive Sicht im Weg steht. Realität und Fiktion können täuschen. Die Wahrheit liegt im Bereich des Möglichen. So schreibt Hildesheimer nach intensiven, 20 Jahre dauernden Studien eine Mozart-Biografie (1977). Diese ist faktentreu und soll einen neuen Zugang zum Genie Mozart schaffen. Das gleiche Verfahren, einem Menschen nahe zu kommen, wendet er an bei der Erschaffung einer völlig fiktiven Figur, dem englischen Adeligen und Kunstexperten aus dem 19. Jahrhundert, Sir Andrew Marbot (1981). Mit wissenschaftlicher Akribie kommt das Porträt einer tragischen Existenz zustande. Marbot soll stark autobiographische Züge des Autors tragen.

Dieses bis ins Absurde gesteigerte Verfahren ist in den frühen Kurzgeschichten schon angedacht. In "1956 -ein Pilzjahr" wird der 100. Geburtstag von Gottlieb Theodor Pilz gefeiert, einer fiktiven Figur inmitten von ehrwürdigen Namen der Geistesgeschichte wie Goethe, Klopstock oder Grabbe. Pilz erfüllt eine Aufgabe ganz im Sinn der für Hildesheimer typischen Ironie: "Sein Beitrag zur Geschichte der abendländischen Kultur kommt in der Nicht-Existenz von Werken zum Ausdruck, die durch sein mutiges, opferbereites Dazwischentreten niemals entstanden sind."

Wolfgang Hildesheimer war ein Weltbürger, der sich in allen Kulturen zurechtfand, sich nirgends heimisch fühlte, aber auf der Suche nach einem Zuhause war. Er wurde am 9. Dezember 1916 als Sohn eines Chemikers und der Tochter einer Buchhändlerfamilie in Hamburg geboren. In seinen Jugendjahren hielt er sich wiederholt in England auf, wanderte mit seinen Eltern 1933 nach Palästina aus und kehrte gegen Ende des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland zurück. Als deutsch-englischer Simultandolmetscher arbeitete er bis Herbst 1949 bei den Nürnberger Prozessen. Das Wissen von den Gräueln der nationalsozialistischen Diktatur verfolgte ihn lebenslang. Trotzdem lehnte er eine Kollektivschuld der Deutschen kategorisch ab. Er zeichnete nicht Schwarz-Weiß, er differenzierte. Seine Wohnsitze wechselte er wie seine Berufe.

Tischler, Dolmetscher, Maler

Die Zeitumstände waren für ihn als Jude schwierig. Mit großer Sensibilität verfolgte er die politischen Vorgänge, analysierte sie scharfsinnig und reagierte darauf mit künstlerischem Engagement. Seine Weltsicht beschrieb er als zutiefst pessimistisch.

In Israel absolvierte Hildesheimer eine Tischlerlehre, in London studierte er Kostüm-und Bühnenbild, in Nürnberg war er Simultandolmetscher für Englisch und Deutsch, später übersetzte er James Joyce: "Ulysses" und "Finnegans Wake". Er war Maler und liebte die Collage, er war ein profunder Kenner der Musik und verehrte Mozart, und vor allem war er Schriftsteller, obwohl er gerade zu diesem Beruf, der ihn so bekannt machte, ein ausgeprägt ambivalentes Verhältnis hatte. Anfang der 50er-Jahre versuchte er, in Deutschland erneut heimisch zu werden und beantragte trotz der Einwände seiner in Israel lebenden Familie die deutsche Staatsbürgerschaft, hatte aber ein belastetes Verhältnis zu ihr. Nach einigen Jahren am Starnberger See und in München suchte er wieder eine neue Bleibe. Von der Politik der Nachkriegszeit war er enttäuscht, die nationalsozialistische Vergangenheit wurde zu wenig aufgearbeitet, manche Nazi-Bonzen erhielten Spitzenpositionen wie gehabt.

1957 fand er seinen Ort im Gebirge - in Poschiavo in Graubünden, wo es ihm und seiner Frau Silvia möglich war, sesshaft zu werden. In Urbino, der kleinen italienischen Universitätsstadt mit Renaissance-Ambiente, bauten sich die Hildesheimer für einige Jahre einen Zweitwohnsitz auf. 1982 erhielten sie die Schweizer Staatsbürgerschaft.

Mit "Tynset" gelang Hildesheimer 1965 ein wichtiger literarischer Durchbruch. Er erhielt dafür den Literaturpreis der Stadt Bremen und den Büchnerpreis. Tynset ist ein Ort in Nordnorwegen, der für den im Bett schlaflos liegenden und von seinen Erinnerungen verfolgten Ich-Erzähler zum Sehnsuchts- und Fluchtpunkt wird. Der Held hat sich vor den Nazi-Häschern ins Gebirge zurückgezogen. Der Gedankenfluss einer schlaflosen Nacht wird dem Leser in einer kunstvollen Form vermittelt, die einer musikalischen Komposition gleicht. Geschichten von Macht und Gewalt werden erzählt, Philosophisches räsoniert. Dazwischen studiert der Held das Kursbuch, das Lawinenbulletin oder den Straßenzustandsbericht. Diese sind verlässlich und genau. Den literarischen Fiktionen ist in Bezug auf Wahrheits- und Erkenntnisgehalt über den Zustand der Welt nicht zu trauen.

Zu denselben Erkenntnissen gelangt der Ich-Erzähler in "Masante", der sich an den Rand der Wüste begibt und in der Bar "La dernière chance", betrieben von der heruntergekommenen Maxine, seine Identität zu finden hofft. Er ruft wie der Held in Tynset Erinnerungen ab, breitet seine gesamte europäische Bildung nochmals aus. Sie nützt ihm nichts. Er scheitert und geht bei Sandsturm in die Wüste.

Enttäuschung und Resignation

In Poschiavo, fern vom deutschen Kulturbetrieb, den Querelen etwa der Gruppe 47, gelingt es Hildesheimer einigermaßen zur Ruhe zu kommen und seine Mozart-Biographie zu schreiben. Es ist sein meistverkauftes und am heftigsten diskutiertes Werk.

Stephan Braese verweist in seiner umfassend recherchierten Biographie auf ein in den 70er-Jahren zunehmend wichtiger werdendes Thema Hildesheimers - die Umweltzerstörung. Das Hörspiel "Hauskauf" verarbeitet Masante-Material. "Sehr schnell wird deutlich, dass die Gegenwart bestimmt ist von einem durch kapitalistische Profitgier angetriebenen Raubbau am gesamten Planeten, ein Unternehmen, das auch vor der Ausrottung minoritärer Ethnien, etwa die Inuit, nicht haltmacht", so Stephan Braese:

Im Hörspiel "Biosphärenklänge" thematisiert Hildesheimer apokalyptisch das Ende der Welt. Bei einem Besuch in Poschiavo im Sommer 1978 erzählte er, dass er von Green Peace begeistert sei, die Aktivisten bewundere, wie sie mit ihren Schnellbooten die Walfänger verfolgten. Er unterstütze diese Aktionen auch finanziell.

Im Aufsatz "The End of Fiction" (1975) begründet Hildesheimer seinen Ausstieg aus der Belletristik. Literatur kann die Welt nicht verbessern. Enttäuschung und Resignation treten zunehmend in den Vordergrund. Seine eigene Biografie hat dazu viel beigetragen.

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