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Die stufen der luge

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Der Mensch differenziert nirgendwo derart spitzfindig wie bei der Wahrheit und der Lüge. Da gibt es wunderschöne Zwischenstufen, eine Treppe sozusagen, auf der man sich hindurch-wendelt, ohne das Gewissen bloßzulegen.

Die Wahrheit, sie ist absolut. Die nächste Stufe wäre die Halbwahrheit. Immerhin ist die Wahrheit noch mit von der Partie. Es folgt die Unwahrheit. Sie hat noch nicht das Gewicht der Lüge. Gut, die Wahrheit ist es schon nicht mehr, trotzdem: frech gelogen auch nicht.

Dazwischen liegen die Finessen: die falsche Aussage oder schlicht Falschaussage. Auch dabei wird noch nicht direkt gelogen; das kann jeder Jurist aus seiner Praxis vor Gericht bestätigen. Ebenso gehört das Dementi in diese Kategorie. Wer et-

was dementiert — vorab Politiker —, der will nicht die plumpe Wahrheit sagen, denn hinter einem Dementi steckt oft das Gegenteil von dem, was bestritten wird.

Erst nach diesen Stufen folgt die Lüge, aber weiterhin nicht unverhüllt in brutaler Nacktheit. Die letzte Zwischenstufe, die eingebaut ist, heißt Notlüge. Sie rechtfertigt einigermaßen die Lüge, die auf diese Weise kaschiert werden soll.

Nachher freilich muß der letzte Schritt getan werden, nichts hilft mehr, es sei denn, man schweige. Das Schweigen als Rettungsring, der vielleicht noch vor dem Lügen bewahren kann. Dieses Schweigen ist eng verwandt mit dem Abstreiten; das Schweigen hat allerdings den Vorteil, daß die Zunge nicht zum Bekenntnis einer Lüge gezwungen wird. Und nahe dem Schweigen nochmals eine Ausflucht: das Verheimlichen, Vertuschen.

Hilft wirklich nichts mehr, sind alle Stufen abgeschritten, so steht der Betreffende unwiderruflich vor der Lüge. Wer sich diese Varianten nun vor Augen hält, dem wird klar, warum sowenig gelogen wird. Die Lüge ist meist allerletztes Mittel. Aber all das, was sich davor befindet, wäscht niemanden weiß, denn die Vorstufen sind ebenfalls der Lüge zuzurechnen. Nur klingt die Anschuldigung nicht so hart, wie wenn wir jemanden direkt der Lüge bezichtigen.

Das soll keineswegs ein moralischer Exkurs sein, sondern ein Hinweis, wie der Mensch die Lüge meiden will, ihr aber doch stets wieder erliegt; sie ist so etwas wie der Apfel im Paradies.

Doch daraus zu schließen, daß das Lügen etwas Zwangsläufiges sei, wäre erneut eine glatte Lüge.

Lügen mögen kurze Beine haben; das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sie uns so oft entwischen.

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