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Opferappelle

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Das Auseinanderdriften sozialer Lebenslagen mit seinen negativen Folgen für die Betroffenen wie für die Gesellschaft insgesamt scheint im Jahr des Sparens kein sonderliches Interesse zu finden. Zwischen der Verteidigung des lähmenden Versorgungsstaates und der Propagierung des neoliberalen Sparstaates ist der Spielraum enger geworden für das gesellschaftliche Ziel, Ausgrenzungstendenzen hintanzuhalten.

In den westlichen Marktwirtschaften vollziehen sich die Mechanismen der Ausschließung leise, fast unbemerkt. Menschen, die sich Wohnen, Essen, Heizen, Bildung für die Kinder und den Urlaub nicht mehr leisten können, verstummen. Die anderen am Rand, denen die Einsicht aufstößt, daß ihr jetziger Status viel unsicherer ist als sie je gedacht hätten, verstummen im Raunzen, wehren sich im dumpfen Groll. Scham auf der einen Seite, rebellierende Selbstunterwerfung auf der anderen.

Die in Sorge um ihre Lebensgrundlagen stehen, werden aber nicht bei Protestveranstaltungen auf der Straße zu sehen sein; Mindestrentnerinnen, Arbeitslose, Alleinerziehende oder Zuwanderer - einige der von Verarmung am stärksten bedrohten Gruppen - haben sich längst aus allen politischen Zusammenhängen zurückgezogen. In die Bewegung einer Societe der „unterschiedlichen Geschwindigkeiten", einer „Splittergesellschaft" sind wir längst eingetreten. Massenarbeitslosigkeit innerhalb Produktivitätssteigerung, Armut im Reichtum.

Die Zuschauer am Rande der Wohlstandsparty stören offensichtlich die mediale Sparbeschallung, verunsichern die Herolde der Opfer-Appelle Wir müssen alle Opfer bringen] „Mit dem Rasenmäher", hat mir eine Freundin zugeflüstert, als gerade im Radio einer der zahlreichen Neujahrs-Opfer-aufrufe gepredigt wurde. Zwei Kinder allein aufziehen, bei 8.000 Schilling im Monat, einer Miete von 4.800 Schilling. Diesmal dürfen nicht die Menschen, die Sozialleistungen brauchen, gegen jene ausgespielt werden, die sie bald brauchen werden. Diesmal nicht auf Mißbraucher so scharf schießen, daß die wirklich Betroffenen auch gleich mit zu Boden gehen.

Der Auter ist

Psychologe und war Mitbegründer und Obmann von SOS Mitmensch

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