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Eine vertane Chance

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München hat ihn wieder, den Exintendanten Wiens und Exoberspielleiter Münchens, Kurt Meisel: als Intendanten des Staatsschauspiels. Ob zu Nutz und Frommen, das wird erst die weitere Zukunft erweisen. — Zur Olympiade hatte Meisel bereits drei Inszenierungen mit „Enthusiasmus, Einsatzfreude, Fleiß und Zähigkeit“ („Süddeutsche Zeitung“, München) in Angriff genommen: „Wallenstein“ (Regie: Felsenstein), „Troilus und Cres-sida“ (Regie: Esrig) und einen selbstinszenierten „Professor Bernhardi“.

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München hat ihn wieder, den Exintendanten Wiens und Exoberspielleiter Münchens, Kurt Meisel: als Intendanten des Staatsschauspiels. Ob zu Nutz und Frommen, das wird erst die weitere Zukunft erweisen. — Zur Olympiade hatte Meisel bereits drei Inszenierungen mit „Enthusiasmus, Einsatzfreude, Fleiß und Zähigkeit“ („Süddeutsche Zeitung“, München) in Angriff genommen: „Wallenstein“ (Regie: Felsenstein), „Troilus und Cres-sida“ (Regie: Esrig) und einen selbstinszenierten „Professor Bernhardi“.

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Für den „Bernhardi“ Schnitzlers hatte Meisel zahlreiche Wiener Schauspieler zur Verfügung, unter anderen Michael Janisch, Hans Jaray, Edd Stavjanik, und Leopold Rudolf in der Titelrolle. Man durfte sich freuen. Daß man enttäuscht wurde, lag an der Regie, die Schnitzler mit Nestroy verwechselte, Amüsant-Doppelbödiges, Leichtzüngig-Zynisches mit Derb-Burleskem, eine diffizile, behutsame Menschengestaltung mit der Charakterisierung einer Posse.

Es ist eines der schwierigen, der vieldeutbaren Stücke Schnitzlers, und obwohl er selbst es lediglich als Charakterkomödie sehen wollte, ist die Geschichte des Arztes, der um einer einfachen menschlichen Geste willen die erbarmungslose Maschinerie schwelenden Nationalhasses der Vor-Nazizeit in Gang setzt, ein Tendenzstück von höchster Brisanz und Aktualität.

Der Inhalt ist bekannt, aber wie anachronistisch und wie fatal klingen in unseren Ohren die Worte Bernhardis zu Beginn der Geschehnisse, Politik interessiere ihn nicht, ja sie gehe ihn nichts an. Kein zeitgenössischer Dramatiker könnte einer seiner Personen diese Sätze in den Mund legen, wenn er sie positiv gemeint hat; und doch ist Bernhardi die positivste Figur des Stückes, weil sie die ehrlichste und wahrhaftigste ist. — An dieser Einstellung aber scheitert Bernhardi — fast, denn daß er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis rehabilitiert wird, liegt nicht an ihm; es ist österreichisch, die Zustände und die Stimmung haben sich geändert, und man paßt sich an. — An diesem Scheitern hätte die Inszenierung ansetzen können, zum anderen an der geistigen Haltung einer Gesellschaft und einer Zeit, die die nachfolgende Katastrophe wetterleuchtend einleitete.

Meisel hatte die Möglichkeit, vor allem mit Leopold Rudolf in der Hauptrolle, den Münchnern einen Pracht-Bernhardi zu liefern: er inszenierte nichts von der Geistigkeit Schnitzlers, nichts von Brisanz und Aktualität. Er inszenierte lautes Theater, das die Feinheiten und die Doppeldeutungen, die schwebenden psychologischen Entwicklungen zer-und verspielte, einen Abend, in dem das Uberdeutliche, das kolportagehafte Ausspielen dominierte. Auch Leopold Rudolf und Hans Jaray ließen sich davon anstecken. Schade, denn wie gut die Inszenierung hätte werden können, merkte man an einigen stillen Augenblicken Rudolfs, zum Beispiel, wenn er im stummen Lesen einer Visitenkarte Person und Atmosphäre der gesamten nächsten Szene vorwegspielt.

Schade um ein interessantes Stück, schade um die Möglichkeit, einem Münchner, einem internationalen Olympia-Publikum einen authentischen „Professor Bernhardi“ zu bieten. — Kein Wunder, daß auch das Publikum Schnitzler mit Nestroy verwechselte und den Abend an den unpassendsten Stellen verlachte.

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