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Gogolsche Kinder

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Sie standen einander politisch nahe, diskutierten aber mit der Schärfe einer Auseinandersetzung zwischen politischen Gegnern — bekannte Wiener Ärzte, die Dr. Günther Wiesinger als Vorsitzender des Programmausschusses der ÖVP zu einem Gespräch über die Säuglingssterblichkeit in Österreich eingeladen hatte.

Auf der einen Seite stand die temperamentvoll bis aggressiv vorgetragene Meinung des Wiener Kinderarztes Dozent Dr. Hans Czermak, die Säuglingssterblichkeit sei in unserem

Land zu hoch, auf der anderen Seite — nicht zuletzt beim Wiener Stadtrat für Gesundheitswesen, dem Frauenarzt Dr. Otto Glück — wurde ein gewisses Bemühen sichtbar, die hohe Säuglingssterblichkeit doch auf auf etwas harmlosere Weise zu erklären.

Dank dem Schwangerenpaß, so Dr. Glück, habe die Säuglingssterblichkeit auf 25,2 pro tausend Lebendgeburten gesenkt werden können — das ist in der Tat eine niedrigere Todesrate als je zuvor.

Trotzdem war die Säuglingssterblichkeit in unserem Land höher als in irgendeinem anderen Land Europas nördlich der Alpen. Während Dr. Glück Überlegungen anstellte, wie die Frauen mit finanziellen Anreizen veranlaßt werden könnten, sich häufiger in die Schwangerenberatungsstellen zu begeben, trat Doktor Czermak dafür ein, zuerst die Institution der Schwangerenberatung zu verbessern.

Aus den Statements von Stadtrat Dr. Glück, Ministerialrat (und Internist) Dr. Gisinger sowie Primarius Professor Dr. Braitenberg-Zenoberg (Gynäkologe, Leiter der Gcrsthofer Frauenklinik), kristallisierte sich eine Reihe möglicher und unmöglicher Erklärungen für die hohe Säuglingssterblichkeit in Österreich heraus:

• Die Indolenz der Schwangeren, die nicht zur Beratung kommen.

• Die Tendenz der Geburtshelfer, den Frauen die Geburtenbeihilfe zu verschaffen, indem sie ein Kind „gerade noch lebend“ auf die Welt bringen.

• Ein gleichgeartetes Interesse der Spitäler, die ihrerseits für eine Lebendgeburt besser honoriert werden.

• Frühgeburten als Folge von Abtreibungsversuchen.

• „Schlamperei“ (so Dr. Braiten-berg) vieler Frauenärzte bei der Schwangerenunterschung.

• Erfindungsgabe mancher Spitäler, die Geburten konstruieren, um mehr Geld zu bekommen.

Hatte letztere Erklärung geradezu Gogolsches Format (Tote Seelen schwebten unsichtbar durch den Raum), so konnten auch die anderen Erklärungen großteils kaum befriedigen. Dr. Glftcks Argument, in Österreich würden nicht lebensfähige Kinder aus finanziellen Erwägungen lebend zur Welt gebracht, dürfte daran scheitern, daß einerseits bei der Ermittlung der Säuglingssterblichkeit in Österreich doch wohl die strenge^ internationalen Normen angewendet werden, anderseits aber Versuchungen, die in Österreich zu Verzerrungen der Statistik führen könnten, ebenso in den anderen Ländern mit niedriger Säuglingssterblichkeit bestehen dürften. Ähnliches gilt für das Abortusargument: Sollten Abtreibungsversuche in den letzten Schwangerschaftsphasen tatsächlich so häufig sein, daß sie unsere Statistik der Säuglingssterblichkeit verschlechtern, wäre es doch schwer möglich, daß in Irland, wo die Abtreibung noch schwerer ist als in Österreich und obendrein die Pille nicht verkauft werden darf, also die Versuchung zu Abtreibungen wesentlich größer ist als hierzulande, trotzdem die Säuglingssterblichkeit etwas

niedriger ist als bei uns. Da reimt sich einiges nicht zusammen.

Zu wenige Untersuchungen, zuwenig gründliche Untersuchungen der Schwangeren: Dr. Czermak, der gegen Österreichs Säuglingssterblichkeit bereits zehn Jahre vor der Entdeckung dieses Themas durch die Wahlstcategen der SPÖ wetterte und sich zum Dank fast ein ärztekame-rales Disziplinarverfahren wegen des einerseits harmlosen, anderseits gar nicht gebrauchten Ausdruckes „Mißstand“ einhandelte, dürfte recht haben, wenn er diese Faktoren für die hohe Säuglingssterblichkeit verantwortlich macht, die ja in erster Linie eine Sterblichkeit zu früh geborener Kinder ist. Sollten die Österreicherinnen tatsächlich unwilliger sein als die Frauen anderer Länder, sich zur kostenlosen Untersuchung zu begeben, so hätten diejenigen, die für die Gesundheitspolitik dieses Landes verantwortlich sind, entweder versäumt, die Schwangerenberatung genügend anziehend auszustatten (wie Dr. Czermak meint), oder aber ihre Pflicht, die Frauen über die Vorteile der Schwangerenberatung aufzuklären, sträflich vernachlässigt. Denn die Nichtbereitschaft, zur Untersuchung zu gehen, dürfte wohl kaum in den Chromosomen der österreichischen Frauen verankert sein. KARL ERKL

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