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Mub das sein?

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Die Frage: „Wie viele Kinder kommen bei uns lebend zur Welt, und wie viele davon können wir, soweit sie wirklich gesund zur Welt gekommen sind, über d|s erste Lebensjahr hinaus am Leben erhalten?“, ist und bleibt so lange ein Problem, bis sich zu seiner Lösung auch Standes- und Volksvertretungen einschalten. Es kann hier in keinem Falle zuviel geschehen, möglicherweise nur wieder zuwenig.

Die jährliche Lebendgeburtenzahl beträgt in Österreich derzeit ungefähr 120.000, davon sterben etwa 5000 Kinder vor Beendigung ihres ersten Lebensjahres, das heißt, die Säuglingssterblichkeit in Österreich beträgt vier Prozent. Auffallend ist nun, daß die Säuglingssterblichkeit 1m“Jkhre 1959 (vorläufige Zahlen) gegenüber 1958 kaum abgesunken ist, man muß Promillezahlen zu Hilfe nehmen, um die Zahlen gegenüberstellen zu können:

1958: 40,7 Promille 1959: 40,0 Promille In vier von den neun Bundesländern stieg die Säuglingssterblichkeit sogar an:

Pro- Pro-

mille mille

Niederösterreich 1958: 40,9 1959: 41,9 Vorarlberg 1958: 32,5 1959: 39,0

Steiermark 1958: 42,9 1959: 44,8

Kärnten 1958: 42,3 1959: 49,1

In Kärnten ist die Säuglingssterblichkeit genau so hoch wie 1953. In Vorarlberg war im Jahre 1953 die. Säuglingssterblichkeit niedriger als 1959! Die Säuglingssterblichkeit in den übrigen Bundesländern beträgt (vorläufige Ergebnisse für 1959):

Promille

Tirol.............29,7

Salzburg ...........36,3

Wien......36,7

Oberösterreich -.........37,1

Burgenland :.......42,7

Kärnten hat derzeit die höchste, Tirol die niedrigste Säuglingssterblichkeit. Wenn sich die vorläufigen Zahlen für Tirol nicht mehr ändern sollten, hat Tirol als erstes Bundesland die Dreiprozentgrenze unterschritten! Hatte Tirol noch vor zehn Jahren eine um ein halbes Prozent höhere Säuglingssterblichkeit als Vorarlberg, so hat es sein Nachbarland heute weit überflügelt.

Wie sehr sich der Unterschied einer Säuglingssterblichkeit von nahezu fünf Prozent in Kärnten und knapp drei Prozent in Tirol praktisch auswirkt, sei an den absoluten Zahlen dieser beiden Bundesländer veranschaulicht:

Kärnten: 10.486 Lebendgeborene

515 Gestorbene im 1. Lebensjahr

Tirol: 10.238 Lebendgeborene

304 Gestorbene im 1. Lebensjahr

Bei etwa gleicher Geburtenzahl stirbt jeden zweiten Tag in Kärnten ein Kind mehr als in Tirol! Sind dies etwa in Kärnten 200 lebensunwerte Leben? Wir müssen diese Frage verneinen. Wer sich die Mühe nähme, jedem einzelnen der 515 Todesfälle in Kärnten nachzugehen, würde die Erfahrung bestätigt finden, daß es sich in weitaus der Mehrzahl der Fälle um vollkommen gesund geborene, lebenstüchtige Kinder handelte.

Noch vor zehn Jahren wurde angeprangert, daß die Säuglingssterblichkeit des Burgenlandes doppelt so groß sei wie diejenige Vorarlbergs.

Pro- Pro-

zent zent

Vorarlberg 1949: 4,8 1959: 3,9

Burgenland 1949: 9,7 1959: 4,3

Das Burgenland hat die erste Etappe, seine Säuglingssterblichkeit auf diejenige Vorarlbergs von 1949 zu senken, erreicht. Das Burgenland weist nicht mehr die höchste Säuglingssterblichkeit in Österreich auf! Vorarlberg hat nicht mehr die niedrigste Säuglingssterblichkeit

— es steht an fünfter Stelle. Auf weniger als die Hälfte seines Standes .von 1949 sank die'' Säuglingssterblichkeit in ' Oberösterreich: 1949: 8,1 Prozent; 1959: 3,7 Prozent.

Immerhin: Die Säuglingssterblichkeit i n ganz Österreich zeigt wenig Tendenz zu weiterem Absinken, da alle Diskussionen über einen weiteren Ausbau der Kindergesundheitsfürsorge in den vergangenen Jahren meist nicht dazu geführt haben, nach weiteren Maßnahmen zu suchen. Bei einer fast stabilen Säuglingssterblichkeit von vier Prozent verlieren wir jedes Jahr 5000 Säuglinge — wissen aber, daß wir, verglichen mit anderen Ländern, wie England, Frankreich, Schweiz, Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland, Holland u. a., die eine Säuglingssterblichkeit von nur drei Prozent, zwei Prozent oder gar nur 1,7 Prozent oder 1,6 Prozent aufweisen, nur 2000 (also weniger als die Hälfte)

— oder seien wir bescheidener: nur 3000 oder 4000 Kinder verlieren müßten. Die Senkung der Säuglingssterblichkeit um nur ein Prozent — also von vier Prozent auf drei Prozent — würde die Rettung von 1000 Kindern im Jahr bedeuten. Drastisch ausgedrückt: Solange die Säuglingssterblichkeit in Österreich vier Prozent statt drei Prozent beträgt, sterben täglich drei gesund geborene Kinder!

Wäre es nicht an der Zeit, in den Jahren eines nie zuvor erreichten Lebensstandards, im Zeitalter der Weltraumraketen und der sozialen Errungenschaften der Fünftagewoche auch auf dem Gebiete der Gesundheitspolitik des Kindes an die Arbeit zu gehen? Warum sollte es gerade bei uns in Österreich nicht möglich sein, durch Zusammenarbeit von Behörden, Ärzten und Bevölkerung mit vereinten Kräften das zu erreichen, was in anderen Ländern erreicht wurde? *

Oft heißt es leichthin: Bei uns sterben die Säuglinge ja in den ersten Lebenstagen, in den ersten Lebenswochen. Das ist ohnedies lebensunwertes Leben. Später sterben keine Säuglinge mehr in nennenswertem Ausmaße. Wie sieht es damit wirklich aus? In der medizinischen Fachwelt unterscheidet man eine sogenannte Frühsterblichkeit, “ das sind die Sterbefälle in den ersten vier Lebenswochen. Die sogenannte Nachsterblichkeit bilden die in den Monaten zwei bis zwölf gestorbenen Säuglinge. Je besser die Kindergesundheitsfürsorge in einem Staate organisiert ist, je besser die Erfolge sind, desto größer ist verhältnismäßig die Frühsterblichkeit. Bei einer Säuglingssterblichkeit von zwei Prozent

müßte dde Säuglingssterblichkeit in Österreich, aufgeschlüsselt in Früh- und Nachsterblichkeit, betragen:

Frühsterblichikedt: 1750 Fälle Nachsterblichkeit: 750 Fälle

In Wirklichkeit sehen die Zahlen folgendermaßen aus:

1958: Frühsterblichkeit: 2982 Nachsterblichkeit: 1892 1959: Frühsterblichkeit: 3089 Nachsterblichkeit: 1852

In einzelnen Bundesländern 1959:

Niederösterreich: Frühsterblichkeit: 600

Nachsterblichkeit: 403

Burgenland: Frühsterblichkeit: 105

Nachsterblichkeit: 92

Kärnten: Frühsterblichkeit: 324

Nachsterblichkeit: 191

Also, die Nachsterblichkeit allein mit 15 bis 16 Promille ist fast so hoch wie die Gesamtsäuglingssterblichkeit Schwedens oder Hollands.

Wieder andere behaupten, die hohe Zahl der unehelichen Kinder verursache bei uns eine so hohe Säuglingssterblichkeit. Wie sieht es damit aus? Das Burgenland mit der nach Vorarlberg niedrigsten Unehelichenquote hatte bis zum Jahre 1948 immer die höchste Säuglingssterblichkeit. Das Land Salzburg, mit der nach Kärnten höchsten Unehelichenquote, hat heute die niedrigste Säuglingssterblichkeit. Die Zahlen für ganz Österreich sind folgende:

1958: Säuglingssterblichkeit

der ehelichen Kinder: 37,7 Promille der unehelichen Kinder: 60,5 Promille

Also, unter Weglassung aller unehelichen Sterbefälle hätte Österreich kaum eine niedrigere Säuglingssterblichkeit als irgendein nord- oder westeuropäischer Staat.

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Schuld an der bei uns relativ hohen Säuglingssterblichkeit der Lückenhaftigkeit, ja dem Fehlen einzelner Fürsorgezweige in einzelnen Gebieten zuzuschreiben ist. Nicht die in der Fürsorge tätigen Sozialarbeiter und beamteten Ärzte trifft eine Schuld — sie sind ja die einzigen, die, mit oft unzulänglichen Mitteln, in das lückenhafte Mosaik der österreichischen Gesundheitsfürsorge da und dort ein neues Steinchen einfügen. In Niederösterreich hat der derzeitige Leiter des Volksgesundheitsamtes bis zu seinem Abgang in seinem neuen Amtsbereich vom Anbeginn seiner Tätigkeit als Leiter des damals neugeschaffenen Referats „Mutterberatung und Säuglingsfürsorge“ erreicht, daß die verantwortlichen nichtärztlichen Stellen die ungeheure Bedeutung der Mutter-Kind-Fürsorge erkannt haben, und nach zähem Bemühen auch einiges Verständnis gefunden. Diesem Umstand war es zu verdanken, daß die Säuglingssterblichkeit in Niederösterreich bis zum Jähr 1958 kontinuierlich absank.

In unserem jüngsten Bundesland, in Burgenland, das uns bisher wie ein Stiefkind erschien wurde dank der Tätigkeit eines seiner Aufgäbet sehr bewußten Lenkers des Kindergesundheitswesens die Mutter-Kind-Fürsorge aufzubauet begonnen.

Eigene Wege beschritt das Bundesland Salz bürg. Die Zahlen sprechen dort eine deutlich* Sprache.

Obwohl Österreich zu den Ländern gehört von denen zu Beginn unseres Jahrhunderts dii Mutter- und Säuglingsfürsorge ihren Ausgani genommen hat, läßt sich nicht bestreiten, dal man uns auf dem Gebiete der Kindergesundheits fürsorge ganz erheblich überflügelt hat.

Wir wissen heute auf dem Gebiet der präven tiven Medizin - eben der Gesundheitsfürsorge -sehr viel, aber wir tun doch noch sehr wenij Wir sind uns bewußt, daß die finanziellen Mög lichkeiten dem, was wir erstreben und verwirk liehen müssen, nicht entgegenstehen. Es mn möglich sein, ein bisher fehlgeleitetes Denke über gesundheitspolitische Erkenntnisse sehne in gesündere Bahnen zu lenken. Der präver tiven Medizin gehört die Zukunft.

Gewiß ist vieles, wie wir gesehen habei schon begonnen worden, und manche Einrici tung bedarf nur noch des großzügigen Ausbaue Man denke nur an die schon eingesetzten un segensreich wirkenden Einrichtungen der s< genannten „fahrbaren“ Mutterberatung, an d insbesondere in Niederösterreich ganz bedei tende Vermehrung der Mutterberatungsstelle: an die Errichtung - leider viel zuwenig - vc Schwangerenberatungsstellen, an die Anscha fung von Inkubatoren für Frühgeburtenaufzuc; und verschiedenes andere. Aber es ist imm noch ein weites Feld vor uns.

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